»Siehst du? Er ist ein ganz normaler Junge wie alle andern auch«, sagte Julián.Doch Miquel Moliner war keineswegs beruhigt und beobachtete Javier mit beinahe wissenschaftlichem Eifer und Argwohn.
»Javier ist von dir besessen, Julián«, sagte er eines Tages zu ihm.
»Er tut alles, um deine Anerkennung zu finden.«
»So ein Quatsch! Dazu hat er ja schon einen Vater und eine Mutter, ich bin bloß ein Freund.«
»Ahnungslos, das ist es, was du bist. Sein Vater ist ein armer Mann, der schon Mühe hat, beim Scheißen den Hintern zu finden, und Doña Yvonne ist ein Drachen mit einem Flohhirn, der einem den lieben langen Tag wie zufällig in Unterwäsche über den Weg läuft und sich für María Guerrero oder etwas noch Schlimmeres hält, das ich lieber nicht nenne. Natürlich sucht der Junge einen Ersatz, und du fällst wie ein rettender Engel vom Himmel und reichst ihm die Hand. Der heilige Julián vom Brunnen, Beschützer der Enterbten.«
»Dieser Dr. Freud weicht dir das Hirn auf, Miquel. Wir alle brauchen Freunde, selbst du.«
»Javier hat keine Freunde und wird nie welche haben. Er hat die Seele einer Spinne. Wir werden ja sehen. Ich frage mich, wovon er träumt…« Miquel Moliner konnte nicht ahnen, daß Javiers Träume denen seines Freundes Julián ähnlicher waren, als er es für möglich gehalten hätte. Als der Sohn des Hausmeisters einmal, Monate vor Juliáns Eintritt in die Schule, im Brunnenhof das dürre Laub einsammelte, fuhr Don Ricardo Aldayas Prunkauto vor. An diesem Nachmittag war der Industrielle in Begleitung. An seiner Seite befand sich eine Erscheinung, ein in Seide gehüllter Engel aus Licht, der über dem Boden zu schweben schien. Der Engel Penélope stieg aus dem Mercedes aus und ging mit flatterndem Sonnenschirm zum Brunnen, wo er stehenblieb und mit der Hand das Wasser im Bassin schlug. Wie immer folgte ihr beflissen ihre Kinderfrau Jacinta und achtete auf die kleinste Geste von ihr. Eine Armee Bediensteter hätte sie begleiten können — Javier hatte nur Augen für das Mädchen. Er fürchtete, die Vision könnte sich verflüchtigen, wenn er bloß blinzelte. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte atemlos nach der Erscheinung. Kurz darauf, als hätte sie seine Gegenwart und seinen verstohlenen Blick erahnt, schaute Penélope zu ihm hin. Die Schönheit dieses Gesichts war ihm schmerzhaft, unerträglich. Auf ihren Lippen glaubte er den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Erschrocken lief er davon, um sich oben im Zisternenturm beim Taubenschlag im Dachgeschoß der Schule zu verstecken, seinem Lieblingsschlupfwinkel. Noch zitterten seine Hände, als er zu den Schnitzwerkzeugen griff und an einem neuen Stück zu arbeiten begann, das dem Gesicht gleichen sollte, welches er eben erblickt hatte. Als er an diesem Abend Stunden später als üblich nach Hause kam, erwartete ihn wütend seine Mutter. Der Junge senkte die Augen, weil er fürchtete, wenn sie seinen Blick läse, würde sie darin das Mädchen vom Bassin sehen und seine Gedanken erraten.
»Wo hast du denn gesteckt, du Lausebengel?«
»Entschuldigen Sie, Mutter. Ich habe mich verirrt.«
»Du bist irr seit dem Tag deiner Geburt.« Jahre später, immer wenn er seinen Revolver einem Gefangenen in den Mund steckte und abdrückte, sollte sich Chefinspektor Francisco Javier Fumero an den Tag erinnern, wo er neben einem Ausflugslokal in Las Planas den Schädel seiner Mutter zerplatzen sah und dabei nur den Widerwillen vor toten Dingen empfand. Die Guardia civil, alarmiert vom Geschäftsführer des Lokals, der den Schuß gehört hatte, fand den Jungen auf einem Felsen sitzen, die noch lauwarme Flinte auf dem Schoß. Starr betrachtete er den enthaupteten, insektenbedeckten Körper von María Craponcia alias Yvonne. Als er die Zivilgardisten auf sich zukommen sah, zuckte er nur die Schultern, das Gesicht voller Blutspritzer, als zehrten die Blattern an ihm. Die Gardisten hörten ein Schluchzen und fanden dreißig Meter weiter Ramón neben einem Baum im Unkraut kauern. Er zitterte und war nicht in der Lage, sich verständlich zu machen. Nach langem Zögern gab der Leutnant der Guardia civil das Gutachten ab, das Vorkommnis sei ein tragischer Unfall gewesen, und bekundete es desgleichen im Protokoll, wenn auch nicht in seinem Gewissen. Francisco Javier Fumero fragte, ob er diese alte Flinte behalten dürfe, wenn er groß sei, wolle er Soldat werden…
»Geht es Ihnen nicht gut, Señor Romero de Torres?« Das plötzliche Auftauchen Fumeros in Pater Fernandos Erzählung hatte mich erstarren lassen, die Wirkung auf Fermín aber war niederschmetternd gewesen. Er war ganz gelb, und seine Hände zitterten.
»Ein Blutdruckabfall«, improvisierte er mit hauchdünner Stimme.
»Dieses katalanische Klima ist für uns Menschen aus dem Süden manchmal quälend.«
»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?« fragte der Priester bestürzt.
»Wenn es Hochwürden nichts ausmacht. Und vielleicht ein Schokoladenplätzchen, von wegen der Glukose…« Der Priester reichte ihm ein Glas Wasser, das Fermín gierig austrank.
»Alles, was ich habe, sind Eukalyptusbonbons. Tun die es auch?«
»Gott möge es Ihnen vergelten.« Fermín verschlang eine Handvoll Bonbons und schien bald darauf seine gewohnte Blässe zurückzugewinnen.
»Dieser Junge, der Sohn des Hausmeisters, welcher bei der Verteidigung der Kolonien heldenhaft sein Skrotum ließ, sind Sie sicher, daß der Fumero hieß, Francisco Javier Fumero?«
»Ja, vollkommen. Kennen Sie ihn etwa?«
»Nein«, sagten wir unisono.Pater Fernando runzelte die Stirn.
»Wäre ja nicht verwunderlich. Mit der Zeit ist Francisco Javier schließlich eine jämmerlich berühmte Persönlichkeit geworden.«
»Belieben?«
»Sie verstehen mich ganz genau. Francisco Javier Fumero ist Chefinspektor der Kriminalpolizei von Barcelona, und sein Ruf ist selbst zu denen spielend vorgedrungen, die wir dieses Gelände nicht verlassen. Und als Sie seinen Namen gehört haben, sind Sie um mehrere Zentimeter geschrumpft, würde ich sagen.«
»Jetzt, da Ihre Exzellenz es erwähnen, klingelt mir der Name irgendwie vertraut…« Pater Fernando schaute uns mißtrauisch an.
»Dieser Junge da ist kein Sohn von Julián Carax. Irre ich mich?«
»Ein geistiger Sohn, Eminenz, was ein größeres moralisches Gewicht hat.«
»In was für einer Patsche stecken Sie beide eigentlich? Wer schickt Sie her?« Jetzt war ich mir sicher, daß der Augenblick nahte, wo uns der Priester hochkant hinauswerfen würde, und beschloß, Fermín zum Schweigen zu bringen und ausnahmsweise auf die Karte Ehrlichkeit zu setzen.
»Sie haben recht, Pater. Julián Carax ist nicht mein Vater. Aber es schickt uns niemand her. Vor Jahren bin ich zufällig auf ein Buch von Carax gestoßen, ein Buch, das als verschwunden galt, und seither habe ich versucht, mehr über ihn herauszufinden und Licht in die Umstände seines Todes zu bringen. Señor Romero de Torres hat mir dabei geholfen…«
»Welches Buch?«
» Der Schatten des Windes. Haben Sie es gelesen?«
»Ich habe Juliáns sämtliche Romane gelesen.«
»Haben Sie sie noch?« Der Priester schüttelte den Kopf.
»Darf ich Sie fragen, was Sie mit ihnen gemacht haben?«
»Vor Jahren ist jemand in mein Zimmer eingedrungen und hat sie verbrannt.«
»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«
»Natürlich. Fumero. Sind Sie etwa nicht deswegen hier?« Fermín und ich wechselten einen verwirrten Blick.
»Inspektor Fumero? Warum sollte er diese Bücher verbrennen wollen?«
»Wer denn sonst? Im letzten Jahr, das wir zusammen auf der Schule verbrachten, hat Francisco Javier versucht, Julián mit der Flinte seines Vaters zu erschießen. Wäre ihm Miquel nicht in den Arm gefallen…«
»Warum hat er ihn denn umzubringen versucht? Julián war doch sein einziger Freund.«
Читать дальше