»Ich habe Ihre Tochter Nuria besucht«, warf ich hin.
»Es geht ihr gut. Sie hat viel zu tun, aber es geht ihr gut. Sie schickt Ihnen Grüße.«
»Ja, und Giftpfeile. Wie langweilig Sie sind, wenn Sie flunkern, Sempere. Aber das Bemühen sei verdankt. Los, kommen Sie.« Als wir drinnen waren, reichte er mir die Öllampe und riegelte wieder zu, ohne uns weiter zu beachten.
»Wenn Sie fertig sind, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.« Das Bücherlabyrinth war in geisterhaften Inseln zu erahnen, die sich unter dem Schleier der Dunkelheit zeigten. Die Lampe warf eine Blase dunstiger Helligkeit zu unseren Füßen. Sprachlos blieb Bea im Eingang zum Labyrinth stehen. Ich mußte lachen, weil ich auf ihrem Gesicht denselben Ausdruck erkannte, den mein Vater vor Jahren auf meinem gesehen haben mußte. Wir traten in die Tunnel und Galerien des Labyrinths, die unter unseren Schritten knarrten. Die Markierungen, die ich bei meinem letzten Besuch angebracht hatte, waren noch da.
»Komm, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte ich.Mehr als einmal verlor ich meine eigene Spur, und wir mußten ein Stück zurückgehen, bis wir das letzte Zeichen wiederfanden. Bea beobachtete mich beunruhigt und zugleich fasziniert. Meine Erinnerung sagte mir, daß sich unser Weg in einer Spirale verloren hatte, doch schließlich konnte ich im Gewirr von Korridoren und Tunneln den richtigen Weg wiederfinden, und wir bogen in einen schmalen Gang ein, der aussah wie ein in die Schwärze hineinreichender Steg. Neben dem letzten Regal kniete ich nieder und suchte mein Buch, versteckt hinter der Reihe von Bänden, die unter einer im Licht der Lampe wie Rauhreif glänzenden Staubschicht begraben waren. Ich ergriff es und gab es Bea.
»Darf ich dir Julián Carax vorstellen?«
» Der Schatten des Windes«, las sie und strich über die goldenen Buchstaben des Umschlags.
»Kann ich es mitnehmen?« fragte sie.
»Jedes außer diesem.«
»Aber das ist ungerecht. Nach allem, was du mir erzählt hast, möchte ich gerade dieses.«
»Ein andermal vielleicht. Aber heute nicht.« Ich nahm es ihr aus den Händen und verwahrte es wieder an seinem Ort.
»Ich werde ohne dich zurückkommen und es mitnehmen, und du wirst nichts davon erfahren«, spottete sie.
»Du würdest es in tausend Jahren nicht finden.«
»Das meinst bloß du. Ich habe deine Markierungen schon gesehen und kenne auch die Geschichte vom Minotaurus.«
»Isaac würde dich nicht reinlassen.«
»Da irrst du dich. Ich bin ihm sympathischer als du.«
»Woher willst du denn das wissen?«
»Ich kann Blicke lesen.« Gegen meinen Willen glaubte ich ihr und schaute weg.
»Nimm irgendein anderes. Schau, das hier klingt vielversprechend. Das Hochlandschwein, das unbekannte Wesen — Auf der Suche nach den Wurzeln der iberischen Sau, von Anselmo Torquemada. Davon sind bestimmt mehr Exemplare verkauft worden als von jedem Roman von Julián Carax. Vom Schwein kann man alles brauchen.«
»Das andere da macht mich mehr an.«
» Tess of the d’Urbervilles. Es ist die Originalausgabe. Wagst du dich auf englisch an Thomas Hardy ran?« Sie schaute mich mißbilligend an.
»Es ist dein.«
»Na also. Es scheint doch ganz, als würde es auf mich warten. Als wäre es seit vor meiner Geburt für mich hier versteckt gewesen.« Verdutzt schaute ich sie an. Sie verzog den Mund zu einem Lächeln.
»Was habe ich denn gesagt?« Da küßte ich sie, ohne nachzudenken, leicht auf die Lippen.Es war nahezu Mitternacht, als wir vor ihrer Haustür ankamen. Wir hatten fast den ganzen Weg schweigend zurückgelegt, da wir nicht auszusprechen wagten, was wir dachten. Wir gingen getrennt, verbargen uns voreinander. Mit ihrer Tess unter dem Arm schritt Bea kerzengerade dahin, und ich folgte ihr eine Spanne zurück, die Berührung des Kusses auf den Lippen. Noch spürte ich Isaacs Blick beim Verlassen des Friedhofs der Vergessenen Bücher. Es war ein Blick, den ich gut kannte, den ich tausendmal bei meinem Vater gesehen hatte, ein Blick, der mich fragte, ob ich eigentlich die leiseste Ahnung habe, was ich tue. Die letzten Stunden hatten sich in einer andern Welt abgespielt, einer Welt von Blicken, die ich nicht begriff und die mir den Verstand raubten. Jetzt, auf dem Rückweg in die Wirklichkeit des EnsancheViertels, löste sich der Bann, und ich empfand nur noch schmerzliches Verlangen und namenlose Unruhe. Ein bloßer Blick auf Bea zeigte mir, daß der Sturm auch sie durcheinandergebracht hatte. Wir blieben vor der Tür stehen und schauten uns an, ohne uns auch nur im geringsten zu verstellen. Ein sangesfreudiger Nachtwächter kam gemächlich näher und trällerte Boleros, wozu er sich mit dem angenehmen Geklingel seiner Schlüsselbüschel begleitete.
»Vielleicht wäre es dir lieber, wenn wir uns nicht mehr sehen«, sagte ich ohne Überzeugung.
»Ich weiß nicht, Daniel. Ich weiß gar nichts. Möchtest du das wirklich?«
»Nein, natürlich nicht. Und du?« Sie zuckte die Schultern.
»Was glaubst du denn?« fragte sie.
»Vorher habe ich dich belogen, im Kreuzgang.«
»Womit?«
»Daß ich dich heute nicht sehen wollte.« Der Nachtwächter ging mit einem flüchtigen Lächeln um uns herum, scheinbar gleichgültig gegenüber meiner ersten Haustürturtelszene, die einem so alten Fuchs banal und abgedroschen erscheinen mußte.
»Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu beeilen«, sagte er.
»Ich werde an der Ecke mal ein Zigarettchen schmauchen, Sie können mir dann sagen, wenn’s soweit ist.« Ich wartete, bis er vorbei war.
»Wann werde ich dich wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht, Daniel.«
»Morgen?«
»Bitte, Daniel. Ich weiß es nicht.« Ich nickte. Sie fuhr mir mit den Fingern zärtlich übers Gesicht.
»Besser, du gehst jetzt.«
»Weißt du wenigstens, wo du mich finden kannst?« Sie nickte.
»Ich werde warten.«
»Ich auch.« Als ich ging, kam bereits der Nachtwächter daher, um aufzuschließen.
»Schamloser Kerl«, flüsterte er mir im Vorbeigehen zu, nicht ohne eine gewisse Bewunderung.
»Wirklich ein süßer Käfer.« Ich wartete, bis Bea im Haus verschwunden war, und ging dann leichten Schrittes davon, immer wieder zurückschauend. Langsam beschlich mich die absurde Gewißheit, daß alles möglich war, und ich hatte das Gefühl, selbst diese menschenleeren Straßen und der feindliche Wind rochen nach Hoffnung. Als ich zur Plaza de Cataluña kam, sah ich, daß sich in der Mitte ein Taubenschwarm versammelt hatte. Sie ließen keine Handbreit Boden frei, ein Schleier weißer Flügel, die sich lautlos wiegten. Zuerst wollte ich um sie herumgehen, aber genau in diesem Moment sah ich, daß sich der Schwarm vor mir auftat, ohne aufzufliegen. Ich ging langsam weiter und sah, daß die Tauben hinter mir wieder zusammenrückten. Im Zentrum des Platzes angekommen, hörte ich die Glocken der Kathedrale Mitternacht schlagen. Ich blieb einen Augenblick stehen, mitten in einem Meer silberner Vögel: Das war der merkwürdigste und wunderbarste Tag meines Lebens gewesen.
Als ich vor dem Schaufenster der Buchhandlung vorbeiging, sah ich, daß noch Licht brannte. Vielleicht war mein Vater so lange aufgeblieben, um die Korrespondenz à jour zu bringen oder unter sonst einem Vorwand, um auf mich zu warten und mich über meine Verabredung mit Bea auszufragen. Ich sah jemanden einen Bücherstapel aufbauen und erkannte Fermíns hagere, sehnige Gestalt. Ich klopfte an die Schaufensterscheibe. Angenehm überrascht schaute er von seiner konzentrierten Arbeit auf und bedeutete mir, durch den Hintereingang einzutreten.
»Noch immer bei der Arbeit, Fermín? Es ist doch schon so spät.«
»Eigentlich habe ich mir nur die Zeit vertrieben, um nachher zu dem armen Don Federico zu gehen und bei ihm zu wachen. Eloy vom Optikerladen und ich haben einen Schichtdienst eingerichtet. Ich schlafe ja sowieso nicht sehr viel, höchstens zwei, drei Stunden. Natürlich sind auch Sie nicht untätig gewesen, Daniel. Mitternacht ist vorbei, und daraus schließe ich, daß Ihr Treffen mit dem jungen Mädchen ein grandioser Erfolg gewesen ist.« Ich zuckte die Schultern.
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