»Sie erinnern mich an Julián«, sagte sie.
»Bevor er den Glauben verlor.«
»Den Glauben woran?«
»An alles.« Im Halbdunkel trat sie auf mich zu und nahm meine flache Hand. Sie strich mir schweigend darüber, als wollte sie die Linien auf der Haut lesen. Die Hand zitterte unter ihrer Berührung. Ich ertappte mich dabei, wie ich im Geist unter diesen abgetragenen, wie geborgten Kleidern die Umrisse ihres Körpers nachzog. Ich wünschte mir, sie zu berühren und ihren Puls unter der Haut glühen zu fühlen. Unsere Blicke hatten sich getroffen, und ich war mir sicher, sie wußte, was ich dachte. Ich spürte, daß sie einsamer war denn je. Ich schaute auf und traf auf ihren gelassenen Blick.
»Julián ist allein gestorben, in der Überzeugung, daß sich niemand an ihn und seine Bücher erinnern würde und daß sein Leben nichts bedeutet hatte«, sagte sie.
»Es hätte ihm Freude gemacht, zu wissen, daß ihn jemand lebendig erhalten wollte, an ihn denken würde. Er hat immer gesagt, wir existieren, solange sich jemand an uns erinnert.« Mich überfiel der fast schmerzhafte Wunsch, diese Frau zu küssen, ein Verlangen, wie ich es noch nie empfunden hatte, nicht einmal, wenn ich Clara Barceló heraufbeschworen hatte. Sie las meinen Blick.
»Es ist spät geworden für Sie, Daniel«, murmelte sie.Ein Teil von mir wollte bleiben, sich in der seltsamen Intimität des Halbdunkels mit dieser Unbekannten verlieren und sie sagen hören, meine Gesten und mein Schweigen erinnerten sie an Julián Carax.
»Ja«, sagte ich unsicher.Sie nickte und begleitete mich zur Tür. Der Gang erschien mir ewig. Sie machte auf, und ich trat auf den Treppenabsatz hinaus.
»Wenn Sie meinen Vater sehen, sagen Sie ihm, es geht mir gut. Belügen Sie ihn.« Ich verabschiedete mich mit gedämpfter Stimme von ihr, bedankte mich, daß sie Zeit für mich gehabt hatte, und wollte ihr höflich die Hand reichen. Sie übersah meine formelle Geste, legte mir die Hände auf die Arme, beugte sich zu mir hin und küßte mich auf die Backe. Wir schauten uns schweigend an, und diesmal wagte ich ihre Lippen zu suchen, beinahe zitternd. Mir schien, sie öffneten sich ein wenig und ihre Finger tasteten nach meinem Gesicht. Im letzten Moment zog sie sich zurück und senkte die Augen.
»Ich glaube, es ist besser, Sie gehen, Daniel«, flüsterte sie.Ich hatte das Gefühl, sie würde gleich weinen, und noch bevor ich etwas sagen konnte, schloß sie die Tür. Ich blieb auf dem Treppenabsatz zurück und spürte ihre Anwesenheit auf der andern Seite der Tür, während ich mich fragte, was dort drin vorgefallen sein mochte. Gegenüber flackerte das Guckloch der Nachbarin. Ich schenkte ihr einen Gruß und stürzte treppab. Wieder auf der Straße, hafteten mir noch immer Nurias Gesicht, ihre Stimme und ihr Geruch im Herzen. Ich nahm die Berührung ihrer Lippen und ihres Atems auf der Haut mit durch die Straßen, die überfüllt waren von gesichtslosen, aus Büros und Geschäften strömenden Menschen. Als ich in die Calle Canuda einbog, überfiel mich eine eisige Brise, die den Lärm abschnitt. Ich war dankbar für den kalten Wind im Gesicht und ging Richtung Universität. Beim Überqueren der Ramblas bahnte ich mir einen Weg zur Calle Tallers und verlor mich dann in deren engem, im Dämmerlicht liegendem Stollen und dachte, ich sei noch immer in diesem düsteren Eßzimmer gefangen, in dem ich mir jetzt Nuria Monfort vorstellte, wie sie allein im Dunkeln saß und still ihre Bleistifte, Mappen und Erinnerungen ordnete, die Augen voller Tränen.
Fast heimtückisch brach der Nachmittag in sich zusammen, mit einem kalten Wind und einem Purpurschleier, der in sämtliche Winkel der Straßen glitt. Ich beschleunigte meine Schritte, und nach knapp zehn Minuten tauchte die Fassade der Universität wie ein in der Nacht gestrandetes ockerfarbenes Schiff auf. Der Pförtner der Philosophischen Fakultät las in seinem Verschlag Spaniens einflußreichste Federn der Gegenwart in der Abendausgabe von El Mundo Deportivo. Es schienen kaum noch Studenten anwesend zu sein. Das Echo meiner Schritte begleitete mich durch die Gänge und Galerien, die zum Kreuzgang führten, wo das Halbdunkel von zwei verschämten gelblichen Leuchten kaum beeinträchtigt wurde, plötzlich kam mir der Gedanke, Bea habe mich auf den Arm genommen und sich hier zu dieser Niemandsstunde mit mir nur verabredet, um sich für meine Anmaßung zu rächen. Die Blätter der Orangenbäume im Kreuzgang glänzten auf, und das Rauschen des Brunnens schlängelte sich zwischen den Bogen hindurch. Ich spähte in den Innenhof, halb enttäuscht, halb feige erleichtert. Da war sie. Vor dem Brunnen zeichnete sich ihre Silhouette ab, wie sie auf einer der Bänke saß und zu den Wölbungen des Kreuzgangs emporschaute. Ich blieb im Eingang stehen, um sie zu betrachten, und einen Moment lang glaubte ich in ihr die auf ihrer Bank der Plaza de San Felipe Neri tagträumende Nuria Monfort zu sehen. Ich stellte fest, daß Bea weder Mappe noch Bücher bei sich hatte, und dachte, vielleicht habe sie an diesem Nachmittag gar keine Vorlesung gehabt, sondern sei eigens meinetwegen hergekommen. Ich trat in den Kreuzgang. Meine Schritte auf den Pflastersteinen verrieten mich, und Bea schaute mit überraschtem Lächeln auf, als wäre ich rein zufällig hier.
»Ich dachte, du würdest nicht kommen«, sagte sie.
»Das hab ich von dir auch gedacht.« Sie blieb sitzen, sehr aufrecht, die Knie zusammengepreßt und die Hände im Schoß gefaltet. Ich fragte mich, wie es möglich war, jemanden als so fern zu empfinden und dennoch jedes Fältchen seiner Lippen lesen zu können.
»Ich bin gekommen, weil ich dir beweisen will, daß du dich geirrt hast in dem, was du neulich gesagt hast, Daniel. Daß ich Pablo heiraten werde und daß es keine Rolle spielt, was du mir heute abend zeigen wirst, ich werde mit ihm nach El Ferrol gehen, sobald er mit dem Militärdienst fertig ist.«
Ich schaute sie an. Mir wurde klar, daß ich zwei Tage lang auf Wolken geschwebt hatte und daß mir jetzt die Welt entglitt.
»Und ich dachte, du bist gekommen, weil du mich sehen wolltest.« Ich lächelte kraftlos und sah, wie sie vor Unbehagen errötete.
»Das hab ich bloß so gesagt«, log ich.
»Aber ernst gemeint habe ich, daß ich dir eine Seite der Stadt zeigen will, die du noch nicht kennst. So wirst du dich wenigstens an mich oder an Barcelona erinnern, wenn du weggegangen bist.«
Sie lächelte ein wenig traurig und wich meinem Blick aus.
»Ich wäre beinahe ins Kino gegangen, weißt du. Um dich heute nicht zu sehen«, sagte sie.
»Warum das denn?« Sie schaute mich schweigend an. Dann zuckte sie die Schultern und schaute in die Höhe, als wollte sie Worte im Flug erhaschen.
»Weil ich Angst hatte, daß du vielleicht recht hast«, sagte sie schließlich.Die zunehmende Dunkelheit und das Schweigen, das Fremde miteinander verbindet, die allein sind, schützten uns, und ich fühlte mich stark genug, jede Verrücktheit zu sagen, und sei es zum letzten Mal.
»Liebst du ihn oder nicht?« Ihr Lächeln löste sich auf.
»Das geht dich nichts an.«
»Stimmt. Das geht nur dich etwas an.« Ihr Blick wurde kalt.
»Was kann es dich denn interessieren?«
»Das geht dich nichts an.« Sie lächelte nicht. Ihre Lippen zitterten.
»Die Leute, die mich kennen, wissen, daß ich Pablo schätze. Meine Familie und…«
»Aber ich bin ja fast ein Fremder«, unterbrach ich sie, »und ich möchte es von dir hören.«
»Was hören?«
»Daß du ihn wirklich liebst. Daß du ihn nicht einfach heiratest, um von zu Hause wegzukommen oder um weit weg von Barcelona und deiner Familie zu sein, wo sie dir nichts anhaben können. Daß du gehst und nicht fliehst.« In ihren Augen glänzten Tränen der Wut.
»Du hast kein Recht, mir so etwas zu sagen, Daniel. Du kennst mich nicht.«
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