»Sag mir, daß ich mich irre, und ich werde gehen. Liebst du ihn?« Wir schauten uns lange schweigend an.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie schließlich.
»Ich weiß es nicht.«
»Irgend jemand hat mal gesagt, in dem Moment, wo man sich damit aufhält, darüber nachzudenken, ob man jemanden liebt, hat man schon für immer aufgehört, ihn zu lieben.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ein gewisser Julián Carax.«
»Ein Freund von dir?«
»So ähnlich.«
»Den wirst du mir vorstellen müssen.«
»Heute abend, wenn du willst.« Wir verließen die Universität unter einem blauschwarz gefleckten Himmel und spazierten ohne bestimmte Richtung dahin, eher um uns gegenseitig an unseren Schritt zu gewöhnen, als um irgendwohin zu gelangen. Wir flüchteten uns ins einzige beiden gemeinsame Thema, ihr Bruder Tomás. Bea sprach über ihn wie über einen Fremden, den man zwar liebt, aber kaum kennt. Sie wich meinem Blick aus. Ich spürte, daß sie bereute, was sie mir im Kreuzgang der Uni gesagt hatte, daß die Worte sie noch schmerzten, innerlich an ihr nagten.
»Du, von dem, was ich dir vorhin gesagt habe«, sagte sie plötzlich, »wirst du Tomás nichts erzählen, ja?«
»Natürlich nicht. Niemandem.« Sie lachte nervös.
»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Sei nicht gekränkt, aber manchmal fühlt man sich freier, mit einem Fremden zu sprechen als mit jemandem, den man kennt. Wie kommt das bloß?« Ich zuckte die Achseln.
»Wahrscheinlich weil uns ein Fremder sieht, wie wir sind, und nicht, wie er glauben will, daß wir sind.«
»Ist das auch von deinem Freund Carax?«
»Nein, das habe ich gerade erfunden, um dich zu beeindrucken.«
»Und wie siehst du mich?«
»Als ein Geheimnis.«
»Das ist das merkwürdigste Kompliment, das man mir je gemacht hat.«
»Das ist kein Kompliment. Das ist eine Drohung.«
»Wieso denn das?«
»Geheimnisse muß man ergründen, herausfinden, was sich hinter ihnen verbirgt.«
»Wahrscheinlich bist du enttäuscht, wenn du siehst, was drinnen ist.«
»Wahrscheinlich bin ich überrascht. Und du ebenfalls.«
»Tomás hat mir nie gesagt, daß du so unverschämt bist.«
»Mein bißchen Unverschämtheit spare ich mir eben ganz für dich auf.«
»Und warum?« Weil du mir Angst machst, dachte ich.Wir traten in ein altes Café beim Poliorama-Theater, setzten uns an einen Fenstertisch und bestellten Sandwiches und Milchkaffee, um uns aufzuwärmen. Sowie der Kaffee und das Essen kamen, stürzte ich mich ohne jeglichen Anspruch auf gute Manieren darauf. Bea rührte keinen Bissen an. Beide Hände um die große dampfende Tasse gelegt, schaute sie mir zu.
»Was willst du mir also heute zeigen, was ich noch nicht kenne?«
»Verschiedenes. Was ich dir aber wirklich zeigen werde, gehört zu einer Geschichte. Hast du mir nicht neulich gesagt, daß du gern liest?« Sie nickte und zog erwartungsvoll die Brauen in die Höhe.
»Also, das ist eine Geschichte, die von Büchern handelt.«
»Von Büchern?«
»Von verfluchten Büchern, von dem Mann, der sie geschrieben hat, von jemandem, der aus den Seiten eines Romans entwischt ist, um ihn zu verbrennen, von einem Verrat und einer verlorenen Freundschaft. Es ist eine Geschichte von Liebe, Haß und den Träumen, die im Schatten des Windes hausen.«
»Du klingst wie der Klappentext eines Schundromans, Daniel.«
»Wahrscheinlich weil ich in einer Buchhandlung arbeite und zu viele von denen gesehen habe. Aber das ist eine wahre Geschichte. Sie stimmt ebenso, wie daß das Brot, das man uns aufgetischt hat, mindestens drei Tage alt ist. Und wie alle wahren Geschichten beginnt und endet sie auf einem Friedhof, aber nicht einem Friedhof, wie du ihn dir vorstellst.« Sie lächelte wie ein Kind, dem man ein Rätsel oder einen Zaubertrick in Aussicht stellt.
»Ich bin ganz Ohr.« Ich trank den letzten Schluck Kaffee und schaute sie eine Weile wortlos an. Wie gern hätte ich in diesem scheuen Blick Zuflucht gesucht, den ich durchsichtig, leer befürchtet hatte. Ich dachte an die Einsamkeit, die mich an diesem Abend befallen würde, nachdem ich mich von ihr verabschiedet hätte, ohne weitere Tricks und Geschichten, um mir ihre Gesellschaft vorzugaukeln. Wie wenig hatte ich ihr zu bieten, und wieviel erwartete ich von ihr.
»Dein Hirn knarrt, Daniel«, sagte sie.
»Was heckst du aus?« Ich begann meine Erzählung mit dem weit zurückliegenden Morgen, an dem ich erwacht war, ohne mich ans Gesicht meiner Mutter erinnern zu können, und hielt nicht inne, bis ich zu der Dämmerwelt gelangte, die ich an diesem Morgen bei Nuria Monfort erahnt hatte. Bea hörte mir schweigend und mit einer Aufmerksamkeit zu, die weder Urteil noch Mutmaßung erkennen ließ. Ich erzählte ihr von meinem ersten Besuch im Friedhof der Vergessenen Bücher und von der Nacht, die ich mit der Lektüre von Der Schatten des Windes verbrachte. Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit dem Mann ohne Gesicht und von Penélope Aldayas Brief, den ich immer bei mir hatte, ohne zu wissen, warum. Ich erzählte ihr, daß ich es nie geschafft hatte, Clara Barceló zu küssen noch sonst eine Frau, und wie meine Hände gezittert hatten, als ich vor wenigen Stunden Nuria Monforts Lippen leichthin auf der Haut gespürt hatte. Ich erzählte ihr, daß ich bis dahin nicht begriffen hatte, daß das eine Geschichte von einsamen Menschen, von Abwesenheiten und Verlust war, und daß ich mich deshalb in sie hineingeflüchtet hatte, bis sie mit meinem eigenen Leben verschmolz, als entwischte ich aus den Seiten eines Romans.
»Sag nichts«, flüsterte Bea.
»Bring mich einfach an diesen Ort.« Es war schon dunkle Nacht, als wir in der Calle Arco del Teatro vor dem Portal des Friedhofs der Vergessenen Bücher stehenblieben. Ich packte den Klopfer mit dem Teufelchen und schlug ihn dreimal an. Es wehte ein kalter, stark nach Kohle riechender Wind. Wir warteten im Schutz des gewölbten Eingangs. Beas Gesicht war eine Handbreit von meinem entfernt. Kurz darauf hörte man im Innern leichte Schritte näher kommen und dann die müde Stimme des Aufsehers fragen:
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Isaac — Daniel Sempere.« Mir schien, ich hörte ihn leise fluchen. Dann folgte das tausendfache Knirschen und Knarren des Schlosses. Schließlich ging die Tür einige Zentimeter auf, und im Schein einer Öllampe erschien Isaac Monforts Adlergesicht. Als er mich erblickte, seufzte er und verdrehte die Augen.
»Ich weiß auch nicht, warum ich frage«, sagte er.
»Wer könnte es wohl zu dieser Stunde sonst sein?« Er war in etwas gehüllt, was mir wie eine merkwürdige Mischung aus Hausrock, Burnus und russischem Armeemantel vorkam. Die wattierten Pantoffeln paßten perfekt zu einer karierten Wollmütze mit Troddel.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt«, sagte ich.
»I wo, ich habe eben erst mit dem ›Müde bin ich, geh zur Ruh‹ begonnen.« Er warf Bea einen Blick zu, als hätte er gerade eine brennende Dynamitpatrone zu ihren Füßen entdeckt.
»Ich hoffe zu Ihrem Besten, das ist nicht das, was es scheint«, drohte er.
»Isaac, das ist meine Freundin Beatriz, ich möchte ihr mit Ihrer Erlaubnis diesen Ort zeigen. Seien Sie unbesorgt, sie ist absolut vertrauenswürdig.«
»Sempere, ich habe Säuglinge mit mehr gesundem Menschenverstand gekannt als Sie.«
»Es ist ja nur für einen Augenblick.« Mit einem Schnauben gab er klein bei und nahm Bea ausgiebig in Augenschein.
»Wissen Sie schon, daß Sie sich in Gesellschaft eines Geistesschwachen befinden?« fragte er.Sie lächelte höflich.
»Ich mache mich langsam mit dem Gedanken vertraut.«
»Göttliche Unschuld. Kennen Sie die Regeln?« Sie nickte. Isaac schüttelte schweigend den Kopf, spähte wie immer nach Schattengestalten auf der Straße und ließ uns herein.
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