Die hinter den alten römischen Stadtmauern versteckte Plaza de San Felipe Neri ist nur gerade ein Luftloch im Labyrinth der Sträßchen des Gotischen Viertels. Die Mauern der Kirche sind übersät mit Einschußlöchern des Maschinengewehrfeuers aus den Tagen des Krieges. An diesem Morgen spielte eine Gruppe kleiner Jungen Soldaten. Eine junge Frau, deren Haar von silbernen Strähnen durchzogen war, saß mit einem halb aufgeschlagenen Buch in den Händen auf einer Bank und ließ den Blick zwischen den Knaben hindurch ins Unbestimmte schweifen. Gemäß meinen Angaben wohnte Nuria Monfort in einem Hauseingangs des Platzes. Auf dem geschwärzten Steinbogen über dem Eingang konnte man noch das Baujahr lesen: 1801. Im dunklen Hausflur war eine Treppe zu erkennen, die spiralförmig hinanstieg. Ich betrachtete die wabenartigen Blechbriefkästen, deren Inhaber auf verblichenen Kartontäfelchen zu lesen waren.
Miquel Moliner / Nuria Monfort 3° 2a
Ich stieg ganz langsam hinauf, aus Angst, das Haus würde einstürzen, wenn ich auf diesen winzigen Puppenhausstufen fester aufträte. Auf jedem Absatz befanden sich zwei Türen ohne Nummer oder sonstiges Unterscheidungsmerkmal. Im dritten Stock angekommen, entschied ich mich aufs Geratewohl für die eine Tür und klopfte an. Das Treppenhaus roch feucht, nach altem Gemäuer. Ich klopfte mehrmals erfolglos. Da versuchte ich es bei der andern Tür, an die ich dreimal mit der Faust hämmerte, da aus dem Innern die Rundfunksendung Besinnliche Momente mit Pater Martín Calzado herausdröhnte.
Eine Frau in türkisblau wattiertem Karo-Hausmantel und Pantoffeln und unter einem Helm von Lockenwicklern öffnete mir die Tür. Im Dämmerlicht sah sie aus wie ein Taucher. Hinter ihr widmete Pater Martín Calzados inzwischen samtweiche Stimme einige Worte dem Sponsor des Programms, dem Kosmetikhersteller Aurorin, dessen Produkte von den Lourdes-Wallfahrern bevorzugt wurden und als wahres Wundermittel gegen Pusteln und rücksichtslose Wucherer galten.
»Guten Tag. Ich suche Señora Monfort.«
»Die Nurieta? Da haben Sie sich in der Tür geirrt, junger Mann. Das ist gegenüber.«
»Verzeihen Sie, aber ich habe geklopft, und da war niemand.«
»Sie sind doch nicht etwa ein Gläubiger, oder?« fragte die Nachbarin.
»Nein. Ich komme im Auftrag von Señora Monforts Vater.«
»Ah, gut. Die Nurieta ist unten und liest. Haben Sie sie nicht gesehen, bevor sie raufgekommen sind?« Wieder auf der Straße, stellte ich fest, daß die Frau mit den silbernen Haaren und dem Buch in den Händen noch immer auf der Bank saß. Ich betrachtete sie aufmerksam. Nuria Monfort war eine mehr als attraktive Frau mit einem Gesicht für Schaufensterpuppen und Studioaufnahmen, aber ihre Jugendlichkeit schien ihr durch den Blick ins Unbestimmte zu entschwinden. In ihrer fragilen, wie hingepinselten Figur hatte sie etwas von ihrem Vater. Zwar sah das Gesicht im Zwielicht zehn Jahre jünger aus, aber auf Grund der Silbersträhnen und der Züge, die sie älter machten, schätzte ich sie auf etwas über vierzig.
»Señora Monfort?« Sie schaute mich an, als erwachte sie zögernd aus einer Trance.
»Mein Name ist Daniel Sempere. Ihr Vater hat mir vor einiger Zeit Ihre Adresse gegeben und mir gesagt, Sie könnten mir vielleicht etwas über Julián Carax erzählen.« Da schwand alle Verträumtheit aus ihrem Gesicht, und ich ahnte, daß es keine gute Idee gewesen war, ihren Vater zu erwähnen.
»Was wollen Sie?« fragte sie argwöhnisch.Ich spürte, daß ich meine Chance vertan hatte, wenn ich nicht auf der Stelle ihr Vertrauen gewann. Die einzige Karte, die ich ausspielen konnte, war, die Wahrheit zu sagen.
»Lassen Sie mich erklären. Vor acht Jahren habe ich mehr oder weniger zufällig im Friedhof der Vergessenen Bücher einen Roman von Julián Carax gefunden, den Sie dort versteckt hatten, damit ihn ein Mann, der sich als Laín Coubert ausgibt, nicht vernichten konnte.« Sie starrte mich an, reglos, als fürchtete sie, die Welt um sie herum bräche zusammen.
»Ich werde Ihnen nur ein paar wenige Minuten stehlen«, sagte ich schnell.
»Ich verspreche es Ihnen.« Sie nickte niedergeschlagen.
»Wie geht es meinem Vater?« fragte sie, meinem Blick ausweichend.
»Gut. Etwas älter mittlerweile. Er vermißt Sie sehr.«
»Sie kommen besser mit nach oben. Über diese Dinge mag ich nicht auf der Straße sprechen.«
Nuria Monfort lebte in Schatten. Ein schmaler Gang führte in ein Eßzimmer, das zugleich Küche, Bibliothek und Büro war. Im Vorbeigehen erkannte ich ein schlichtes fensterloses Schlafzimmer. Der Rest der Wohnung bestand aus einem winzigen Bad ohne Dusche und Waschbecken, wo alle möglichen Gerüche hereindrangen, vom Küchendunst der Kneipe unten bis zum Gestank der bald hundertjährigen Leitungen. Die Wohnung lag in ewigem Halbdunkel, dazu ein zwischen bröckelnden Hausmauern hängender finsterer Balkon. Es roch nach schwarzem Tabak, nach Kälte und Entbehrung. Nuria Monfort beobachtete mich, und ich tat so, als bemerkte ich nicht, wie ärmlich ihre Wohnung war.
»Zum Lesen gehe ich auf die Straße hinunter, hier in der Wohnung gibt es kaum Licht«, sagte sie.
»Mein Mann hat mir eine Schreibtischlampe versprochen, wenn er wieder nach Hause kommt.«
»Ist Ihr Mann auf Reisen?«
»Miquel ist im Gefängnis.«
»Entschuldigen Sie, ich wußte nicht…«
»Sie haben es ja auch nicht wissen können. Ich schäme mich nicht, es zu sagen — mein Mann ist kein Verbrecher. Dieses letzte Mal haben sie ihn mitgenommen, weil er für die Metallarbeitergewerkschaft Flugblätter gedruckt hat. Das ist schon zwei Jahre her. Die Nachbarn glauben, er ist in Amerika, auf Reisen. Auch mein Vater weiß es nicht, und ich möchte nicht, daß er es erfährt.«
»Seien Sie unbesorgt. Von mir wird er es nicht erfahren.«
Ein gespanntes Schweigen trat ein; vermutlich sah sie in mir einen Spion von Isaac.
»Es ist bestimmt hart, die Wohnung allein zu tragen«, sagte ich ungeschickt, um die Leere zu füllen.
»Es ist nicht leicht. Ich versuche es, so gut ich kann, mit Übersetzungen, aber wenn man einen Mann im Gefängnis hat, reicht das nicht weit. Die Anwälte haben mich bluten lassen, und ich stecke bis zum Hals in Schulden. Übersetzen trägt fast so wenig ein wie Schreiben.« Sie schaute mich an, als erwarte sie eine Antwort. Ich lächelte nur.
»Übersetzen Sie Bücher?«
»Nicht mehr. Jetzt habe ich mit Drucksachen, Verträgen und Zolldokumenten angefangen, das bringt viel mehr ein. Fürs Übersetzen von Literatur werden Hungerlöhne bezahlt, wenn auch etwas mehr als fürs Schreiben. Die Hausgemeinschaft hat mich schon zweimal hinauszuekeln versucht. Daß ich meinen Anteil an den Ausgaben der Gemeinschaft zu spät zahle, ist noch harmlos. Stellen Sie sich vor — Fremdsprachen beherrschen und überdies eine Hose tragen. Manch einer beschuldigt mich, in dieser Wohnung ein Bordell zu führen. Ach, dann sähe alles ganz anders aus…« Ich hoffte, im Halbdunkel sehe sie nicht, wie ich rot wurde.
»Entschuldigen Sie. Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Jetzt bringe ich Sie auch noch zum Erröten.«
»Es ist meine Schuld. Ich habe gefragt.« Sie lachte nervös. Die von dieser Frau ausgehende Einsamkeit war schmerzlich.
»Sie gleichen ein wenig Julián«, sagte sie plötzlich.
»Wie Sie schauen und sich bewegen. Er hat es genauso gemacht. Er hat geschwiegen und mich angeschaut, ohne daß ich wissen konnte, was er dachte, und dann habe ich ihm wie ein Dummchen Dinge erzählt, die ich besser für mich behalten hätte… Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Milchkaffee?«
»Nein, danke. Machen Sie sich bitte keine Mühe.«
»Das ist keine Mühe. Ich wollte sowieso einen für mich machen.« Ich vermutete, dieser Milchkaffee war ihr ganzes Mittagessen, und lehnte die Einladung erneut ab. Sie ging in eine Ecke des Eßzimmers, wo sich eine elektrische Kochplatte befand.
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