»Fermín, ich bitte Sie«, schnitt ihm mein Vater das Wort ab.
»Jawohl, Señor Sempere.« Die Merceditas wollte eben zu einer Antwort ansetzen, als von der Straße empörtes Gezeter hereindrang. Wir verstummten erwartungsvoll. Vorsichtig streckte die Merceditas den Kopf zur Tür hinaus. Wir sahen mehrere Händler mit aufgeregtem Kopfschütteln vorbeigehen. Gleich darauf erschien Don Anacleto Olmo, Nachbar und offiziöser Sprecher der Königlichen Akademie der Sprache in unserem Haus. Er war Gymnasiallehrer, hatte spanische Literatur und alte Sprachen studiert und teilte seine Wohnung im zweiten Stock mit sieben Katzen. In den nicht von seiner Lehrtätigkeit beanspruchten Stunden betätigte er sich als Kolumnist eines angesehenen Zeitungsverlages und dichtete, wie man munkelte, alterserotische Verse, die er unter dem Pseudonym Raúl de Kock publizierte. Im persönlichen Umgang war Don Anacleto ein leutseliger Mann, in der Öffentlichkeit jedoch fühlte er sich verpflichtet, die Rolle des Rhapsoden zu spielen, und befleißigte sich einer hochbarocken Ausdrucksweise.An diesem Morgen kam er mit kummerpurpurnem Gesicht daher, und seine Hände am Elfenbeinstock zitterten ein wenig. Neugierig starrten wir ihn alle vier an.
»Was ist denn, Don Anacleto?« fragte mein Vater.
»Franco ist gestorben, sagen Sie schon ja«, bemerkte Fermín hoffnungsfroh.
»Halten Sie den Mund, Sie roher Mensch«, herrschte ihn die Merceditas an, »und lassen Sie den Herrn Doktor sprechen.« Don Anacleto holte tief Atem, und nachdem er wieder zu seinem gesetzten Wesen gefunden hatte, erstattete er uns Bericht.
»Meine Freunde, das Leben ist ein Drama, und selbst den erhabensten Geschöpfen des Herrn bleibt es nicht erspart, die Bitterkeit eines launigen Schicksals zu kosten. Gestern abend, nach Mitternacht bereits, ist unser geschätzter Nachbar Don Federico Flaviá i Pujades von den staatlichen Sicherheitskräften inhaftiert worden.« Ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.
»Jesus, Maria und Josef«, sagte die Merceditas.Fermín schnaubte enttäuscht — offensichtlich erfreute sich das Staatsoberhaupt nach wie vor einer ausgezeichneten Gesundheit. Don Anacleto holte abermals Luft und fuhr fort:
»Anscheinend haben, nach einer Schilderung aus glaubhafter Quelle, zwei Mitglieder der Kriminalpolizei in Zivil gestern kurz nach Mitternacht Don Federico dabei ertappt, wie er als Matrone verkleidet auf der Bühne einer Kaschemme in der Calle Escudellers vor einem offenbar aus Geistesschwachen bestehenden Publikum Couplets mit pikantem Text intonierte. Diese elenden Geschöpfe, die am selben Abend aus dem Armenhaus eines religiösen Ordens entwischt waren, hatten sich im Taumel des Spektakels die Hose heruntergelassen, um schamlos und händeklatschend mit aufgerichtetem Nachtschattengewächs und geiferndem Maul zu schwofen.« Bei dieser schlüpfrigen Wendung, die die Schilderung genommen hatte, bekreuzigte sich die Merceditas erschrocken.
»Als die Mütter von einigen der armen Geschöpfe benachrichtigt wurden, haben sie Anzeige wegen Verstoßes gegen die elementarste Moral erstattet. Sogleich bekam die Presse Wind von dem gefundenen Fressen, und die Zeitung El Caso berichtet in ihrer heutigen Ausgabe von dem Ereignis, das sie als dantesk und schaudererregend bezeichnet.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte mein Vater.
»Wo es schon so ausgesehen hat, als hätte Don Federico aus seinen Erfahrungen gelernt.« Don Anacleto nickte pastoral.
»Ja, aber noch haben Sie das Schlimmste nicht gehört. Anscheinend ist der Uhrmacher schon zweimal unter ähnlichen Umständen festgenommen worden, wie in den Annalen des Kriminalgeschehens von den Ordnungshütern festgehalten ist.«
»Sagen Sie eher, von den Bösewichten mit Erkennungsmarke«, schnauzte Fermín.
»In die Politik mische ich mich nicht ein. Aber ich kann Ihnen sagen, daß die beiden Polizisten den armen Don Federico von der Bühne heruntergeprügelt und aufs Revier in der Vía Layetana mitgenommen haben. Unter andern Umständen wäre es mit ein wenig Glück bei einem Scherz und vielleicht zwei Ohrfeigen geblieben, aber unglücklicherweise war es so, daß gestern abend der berühmte Inspektor Fumero Dienst hatte.«
»Fumero«, stöhnte Fermín, den die bloße Erwähnung des Inspektors erschauern ließ.
»Höchstpersönlich. Wie ich sagte, wurde dieser Ordnungshüter von der verängstigten Mutter eines der auf Abwege gebrachten Burschen aus dem Armenhaus über die Ereignisse informiert. Er gab dem diensttuenden Sergeanten zu verstehen, eine solche Schweinerei verdiene die höchste Strafe und was dem Uhrmacher, also Don Federico Flaviá i Pujades, zustehe, sei eine Nacht im Gemeinschaftsgefängnis im untersten Kellergeschoß des Polizeireviers.« An diesem Punkt begann Don Anacleto, ein kurzes, aber herzliches Porträt vom Charakter des Opfers zu zeichnen, obwohl es allen bestens bekannt war.
»Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, daß Señor Flaviá i Pujades mit einer schwachen, zartfühlenden Persönlichkeit gesegnet ist, ganz Güte und christliche Frömmigkeit. Wenn sich eine Fliege in die Uhrmacherei verirrt, klatscht er sie nicht mit seinem Hanfschuh zu Tode, sondern öffnet Tür und Fenster sperrangelweit, damit die Zugluft dieses Geschöpf des Herrn in dessen freie Natur zurückträgt. Leider hat Don Federico zeit seines Lebens mit einem unheilvollen Hang zum Laster zusammenleben müssen, das ihn in ganz seltenen Fällen übermannt und als Weibsperson verkleidet auf die Straße hinausgespült hat. Sein Geschick, von der Armbanduhr bis zur Nähmaschine alles zu reparieren, ist immer sprichwörtlich gewesen und seine Person von allen geschätzt worden, die wir ihn gekannt und in seinem Geschäft verkehrt haben, selbst von denen, die mit seinen gelegentlichen nächtlichen Eskapaden mit Perücke, Zierkamm und getupftem Kleid nicht einverstanden waren.«
»Sie sprechen, als wäre er tot«, sagte Fermín konsterniert.
»Tot nicht, Gott sei Dank.« Ich seufzte erleichtert auf. Don Federico wohnte bei seiner achtzigjährigen, stocktauben Mutter, die im Viertel als die Pepita bekannt und für ihre orkanartigen Winde berühmt war.
»Die Pepita dürfte sich kaum vorgestellt haben«, fuhr der Dozent fort, »daß ihr Federico die Nacht in einer schmutzigen Zelle verbracht hatte, wo ein Chor von Luden und Messerstechern sich um ihn riß und ihm danach eine Mordstracht Prügel verpaßte.« Grabesstille legte sich über uns. Die Merceditas schluchzte. Fermín wollte ihr zum Trost zärtlich den Arm umlegen, doch mit einem Sprung riß sie sich los.
»Stellen Sie sich das Bild vor«, schloß Don Anacleto.Der Epilog der Geschichte machte nichts besser. Gegen zehn Uhr vormittags hatte ein grauer Lieferwagen des Polizeipräsidiums Don Federico vor seiner Haustür liegenlassen. Er war blutüberströmt, das Kleid hing ihm in Fetzen vom Leib, seine Perücke und die ganzen Klunker waren verschwunden. Man hatte ihn angepißt, und sein Gesicht war mit Quetschungen und Schnitten übersät. Der Sohn der Bäckerin hatte ihn gefunden, ein Häufchen Elend, das zitternd im Hauseingang kauerte.
»Das gibt es doch nicht, mein Gott«, sagte die Merceditas in der Tür der Buchhandlung, in weiser Entfernung von Fermíns Händen.
»Der arme Kerl, wo er doch ein so herzensguter Mensch ist, der sich mit keinem anlegt. Und wenn er sich gern als Pharaonin verkleidet und singen geht? Was ist denn schon dabei? Die Menschen sind einfach böse.« Don Anacleto schwieg und schaute zu Boden.
»Böse nicht«, entgegnete Fermín.
»Schwachsinnig, was nicht dasselbe ist. Das Böse setzt moralische Entschlossenheit voraus. Der Schwachkopf dagegen hält sich nicht mit Nachdenken auf, sondern handelt instinktiv. Was die Welt braucht, sind mehr wirklich böse Menschen und weniger beschränkte Holzköpfe.«
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