»Darf ich Sie jetzt bitten zu gehen, wenn Sie so gut sein wollen.« Er wandte sich mit seinem widerlichen Lächeln zur Tür.
»Wir werden uns wiedersehen. Und sagen Sie Ihrem Freund, Inspektor Fumero habe ihn im Auge und lasse ihn herzlich grüßen.« Der Besuch des unseligen Inspektors und der Nachhall seiner Worte vergifteten mir den Nachmittag. Nachdem ich eine Viertelstunde mit verknoteten Eingeweiden hinter dem Ladentisch hin und her getigert war, schloß ich die Buchhandlung vorzeitig, trat auf die Straße hinaus und ging ziellos umher. Ich brachte die Andeutungen und Drohungen dieses Killertypen nicht aus dem Kopf und fragte mich, ob ich meinem Vater und Fermín von diesem Besuch erzählen mußte, aber vermutlich war genau das die Absicht Fumeros gewesen — Zweifel, Angst und Unsicherheit unter uns zu säen. Ich beschloß, dieses Spiel nicht mitzuspielen. Anderseits alarmierten mich die Andeutungen über Fermíns Vergangenheit. Und sogleich schämte ich mich, als ich feststellte, daß ich den Worten des Polizisten einen Augenblick Glauben geschenkt hatte. Nachdem ich mir lange den Kopf darüber zerbrochen hatte, dachte ich, am besten versiegle ich die Episode in einem Winkel meines Gedächtnisses und denke nicht mehr an das, was sie mit sich bringen mochte.Auf dem Heimweg kam ich an der Uhrmacherei des Viertels vorbei. Durchs Schaufenster sah ich Don Federico hinter seinem Tisch sitzen und mich hereinwinken. Er war ein leutseliger, stets gut aufgelegter Mann, der nie vergaß, einem schöne Feiertage zu wünschen, und der für jede denkbare Schwierigkeit eine Lösung wußte. Mich schauerte bei dem Gedanken, daß er auf Inspektor Fumeros schwarzer Liste stand, und ich fragte mich, ob ich ihn wohl warnen sollte. Ratlos trat ich in den Laden.
»Wie geht’s, Daniel? Du machst ja ein merkwürdiges Gesicht.«
»Ein schlechter Tag. Wie läuft’s denn, Don Federico?«
»Wie geschmiert. Die Uhren werden immer schlechter, und ich komme mit der Arbeit nicht mehr nach. Wenn das so weitergeht, werde ich einen Gehilfen einstellen müssen. Dein Freund, der Erfinder, hätte der kein Interesse? Sicher hätte er eine geschickte Hand dafür.« Ich konnte mir unschwer ausmalen, was Tomás Aguilars Vater von der Aussicht hielte, daß sein Sohn eine Beschäftigung bei Don Federico annähme, der offiziellen Tunte des Viertels.
»Ich werde es ihm sagen.«
»Übrigens, Daniel, da ist der Wecker, den mir dein Vater vor zwei Wochen gebracht hat. Ich weiß auch nicht, was er damit angestellt hat, aber er würde besser einen neuen kaufen, als den da reparieren zu lassen.« In stickigen Sommernächten ging mein Vater manchmal auf dem Balkon schlafen.
»Er ist ihm auf die Straße runtergefallen«, sagte ich.
»So was hab ich mir gleich gedacht. Ich hätte da einen Radiant zu einem sehr guten Preis für ihn. Wenn du willst, kannst du ihn gleich mitnehmen, er soll ihn ausprobieren.«
»Vielen Dank, Don Federico.« Er packte mir den Wecker ein.
»Hochtechnologie«, sagte er.
»Übrigens hat mich das Buch entzückt, das mir Fermín neulich verkauft hat. Eins von Graham Greene. Dieser Fermín ist ein prima Kerl.« Ich nickte.
»Ja, der ist Gold wert.«
»Mir ist aufgefallen, daß er nie eine Uhr trägt. Sag ihm, er soll mal vorbeikommen, dann regeln wir das.«
»Werde ich. Danke, Don Federico.« Als er mir den Wecker aushändigte, sah mich der Uhrmacher aufmerksam an und zog die Brauen in die Höhe.
»Ist bestimmt nichts los, Daniel? Wirklich nur ein schlechter Tag?« Ich lächelte und nickte wieder.
»Es ist nichts, Don Federico. Passen Sie auf sich auf.«
»Du auf dich auch, Daniel.« Als ich zu Hause ankam, schlief mein Vater auf dem Sofa, die Zeitung auf der Brust. Ich stellte den Wecker mit der Notiz
»Von Don Federico, du sollst den alten wegwerfen« auf den Tisch und glitt still in mein Zimmer, legte mich im Halbdunkel aufs Bett und schlief beim Gedanken an den Inspektor, an Fermín und den Uhrmacher ein. Als ich erwachte, war es schon zwei Uhr früh. Ich schaute auf den Gang hinaus und sah, daß sich mein Vater mit dem neuen Wecker in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Mir wurde klar, daß ich an die Existenz von Inspektor Fumero nie wirklich geglaubt hatte. Ich ging in die Küche und schenkte mir ein Glas kalte Milch ein. Ich fragte mich, ob sich Fermín wohl gesund und munter in seiner Pension befinde.Ich versuchte das Bild des Polizisten aus meinen Gedanken zu verdrängen und wieder einzuschlafen, aber daran war nicht zu denken. Ich knipste das Licht an, um den Umschlag des Briefes an Julián Carax zu studieren, den ich Doña Aurora am Morgen unterschlagen hatte und noch in der Jackettasche trug. Ich legte ihn auf meinem Schreibtisch unter den Lichtkegel der Lampe. Es war ein pergamentartiger Umschlag mit gezackten, vergilbten Rändern, der sich schmierig anfühlte. Der Stempel, kaum noch ein Schatten, war vom 18. Oktober 1919. Das Siegel war abgefallen, wahrscheinlich wegen Doña Auroras Neugier. An seiner Stelle war ein rötlicher Fleck zurückgeblieben, wie von der Berührung einer Wildrose, die die Verschlußklappe küßte, auf der der Absender zu lesen war:
Penélope Aldaya Avenida del Tibidabo 32, Barcelona
Ich öffnete den Umschlag und zog den Brief heraus, ein dickes, säuberlich gefaltetes ockerfarbenes Blatt. Der blaue Tintenschriftzug wirkte nervös, verflüchtigte sich jeweils nach ein paar Worten und gewann dann wieder an Kraft. Alles auf diesem Blatt erzählte von einer andern Zeit — die vom Tintenfaß abhängige Schrift, die mit der Federspitze auf dem dicken Blatt hingekratzten Worte, das sich rauh anfühlende Papier. Ich strich den Brief auf dem Tisch glatt und las ihn atemlos.
Lieber Julián, heute morgen habe ich von Jorge erfahren, daß Du
Barcelona wirklich verlassen und Dich aufgemacht hast, Deine Träume zu suchen. Ich habe immer befürchtet, daß Du durch diese Träume weder mir noch sonst jemandem gehören würdest. Gern hätte ich Dich ein letztes Mal gesehen, Dir in die Augen geschaut und Dir Dinge gesagt, die ich Dir in einem Brief nicht erzählen kann. Nichts ist so eingetreten, wie wir es geplant hatten. Ich kenne Dich nur zu gut und weiß, daß Du mir nicht schreiben, ja mir nicht einmal Deine Adresse schicken wirst, daß Du ein anderer sein willst. Ich weiß, daß Du mich hassen wirst, weil ich nicht dort war wie versprochen. Daß Du glauben wirst, ich hätte Dich versetzt. Ich hätte keinen Mut gehabt.
So oft habe ich mir Dich vorgestellt, allein in diesem Zug, überzeugt, ich hätte Dich betrogen. Viele Male habe ich versucht, Dich durch Miquel zu finden, aber er sagte mir, Du willst nichts mehr von mir wissen. Was für Lügen hat man Dir aufgetischt, Julián? Was hat man Dir von mir erzählt? Warum hast Du ihnen geglaubt?
Jetzt weiß ich endlich, daß ich Dich verloren habe, daß ich alles verloren habe. Aber trotzdem kann ich nicht zulassen, daß Du für immer gehst und mich vergißt, ohne zu wissen, daß ich keinen Groll gegen Dich hege, daß ich es von Anfang an wußte, daß ich wußte, daß ich Dich verlieren würde und daß Du in mir nie das sehen würdest, was ich in Dir sah. Du sollst wissen, daß ich Dich vom ersten Tag an geliebt habe und Dich noch immer liebe, jetzt mehr denn je, ob es Dir gefällt oder nicht.
Ich schreibe Dir heimlich, ohne daß es jemand weiß. Jorge hat geschworen, daß er Dich umbringt, wenn er Dich noch einmal sieht. Man läßt mich nicht mehr aus dem Haus, nicht einmal mehr ans Fenster. Ich glaube, man wird mir nie verzeihen. Eine Vertrauensperson hat mir versprochen, Dir diesen Brief zu schicken. Ich nenne ihren Namen nicht, um sie nicht zu kompromittieren. Ich weiß nicht, ob Dich meine Worte erreichen werden. Aber wenn es so sein und Du Dich entschließen solltest, mich zu holen, wirst Du hier den Weg finden, es zu tun. Während ich schreibe, stelle ich mir Dich in diesem Zug vor, voller Träume und das Herz vom vermeintlichen Betrug gebrochen, vor allen und vor Dir selbst fliehend. Es gibt so vieles, was ich Dir nicht erzählen kann, Julián. Dinge, die wir nie gewußt haben und die Du besser nie erfährst.
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