Am selben Abend besuchte ich meinen Vater im Friedhof der Vergessenen Bücher und versteckte die Bände, wo niemand sie finden konnte, vor allem nicht Julián. Es war Nacht geworden, als ich wieder ging. Die Ramblas hinunterschlendernd, kam ich in die Barceloneta und ging an den Strand, wo ich die Stelle suchte, an der ich mit Julián aufs Meer hinausgeschaut hatte. In der Ferne loderte das Lager von Pueblo Nuevo wie ein Scheiterhaufen, ein bernsteinfarbener Schein ergoß sich aufs Meer, und Feuer- und Rauchspiralen züngelten zum Himmel empor. Als die Feuerwehrmänner kurz vor Tagesanbruch die Flammen endlich löschen konnten, blieb nichts mehr übrig außer einem Skelett aus Ziegelsteinen und Metall, das das Gewölbe gestützt hatte. Dort traf ich Lluís Carbó, der zehn Jahre lang Nachtwächter gewesen war und jetzt fassungslos in die rauchenden Trümmer schaute. Seine Brauen und die Haare auf den Armen waren versengt, und seine Haut glänzte wie feuchte Bronze. Er erzählte mir, der Brand sei kurz nach Mitternacht ausgebrochen, und Zehntausende von Bänden seien ihm zum Opfer gefallen, bis am Morgen nur noch ein Aschenmeer übriggeblieben sei. Lluís hatte noch ein paar Bücher in der Hand, die er als einzige hatte retten können, Gedichtsammlungen von Verdaguer und zwei Bände Geschichte der Französischen Revolution. Die Feuerwehrleute hatten in den Trümmern einen verbrannten Körper gefunden. Zuerst hatten sie ihn für tot gehalten, aber einer hatte festgestellt, daß er noch atmete, und so hatten sie ihn ins Hospital del Mar gebracht.
Ich erkannte ihn an den Augen. Das Feuer hatte seine Haut, die Hände und das Haar verzehrt. Wie mit Peitschenhieben hatten ihm die Flammen die Kleider weggerissen, und sein Körper war eine einzige offene Wunde, die unter dem Verband eiterte. Man hatte ihn am Ende eines Korridors in ein abgelegenes Zimmer mit Sicht auf den Strand verbannt und ihn mit Morphium vollgepumpt, in der Erwartung, er werde sterben. Ich wollte seine Hand halten, aber eine der Krankenschwestern machte mich darauf aufmerksam, daß unter dem Verband kaum noch Fleisch sei. Das Feuer hatte ihm die Lider weggemäht, so daß sein Blick ununterbrochen ins Leere gerichtet war. Die Schwester, die mich weinend auf dem Boden kauern sah, fragte mich, ob ich wisse, wer er sei. Ich bejahte — es sei mein Mann. Einen gierigen Geistlichen, der seine letzten Segnungen spenden wollte, schrie ich in die Flucht. Nach drei Tagen atmete Julián immer noch. Die Ärzte sagten, es sei ein Wunder, die Lust zu leben halte ihn mit Kräften, mit denen die Medizin nicht wetteifern könne, am Leben. Sie täuschten sich. Es war nicht die Lust zu leben, es war der Haß. Eine Woche später, als man sah, daß sich dieser vom Tod überzogene Körper zu sterben weigerte, wurde er offiziell unter dem Namen Miquel Moliner aufgenommen. Er sollte zwölf Monate dableiben. Immer schweigend, der rastlose Blick glühend.
Ich ging täglich ins Krankenhaus. Bald begannen mich die Schwestern zu duzen und luden mich ein, mit ihnen in ihrem Raum zu essen. Es waren alles einsame, starke Frauen, die darauf warteten, daß ihre Männer von der verworrenen Front zurückkehrten. Sie brachten mir bei, Juliáns Wunden zu reinigen, ihm die Verbände zu wechseln, ein Bett mit einem bewegungsunfähigen Körper darin frisch zu beziehen. Sie lehrten mich auch, die Hoffnung aufzugeben, den Mann wiederzusehen, den diese Knochen einmal getragen hatten. Nach dem dritten Monat nahmen wir ihm den Gesichtsverband ab. Hervor kam ein Totenschädel. Er hatte keine Lippen, keine Wangen. Es war ein Gesicht ohne Züge, wie eine verbrannte Puppe. Die Augenhöhlen hatten sich vergrößert und beherrschten jetzt seinen Ausdruck. Vor mir gaben es die Krankenschwestern nicht zu, aber sie empfanden Ekel, fast Angst. Die Ärzte hatten gesagt, wenn die Wunden verheilten, werde sich allmählich eine Art violette Haut wie bei einem Reptil bilden. Niemand wagte etwas über seinen Geisteszustand zu sagen. Alle nahmen als sicher an, daß Julián — Miquel — bei dem Brand den Verstand verloren hatte, daß er nur dank der besessenen Pflege dieser Ehefrau vegetierte und überlebte, welche standhaft blieb, wo jede andere entsetzt das Weite gesucht hätte. Ich schaute ihm in die Augen und wußte, daß Julián noch da drin war, lebend, langsam verfallend. Wartend.
Er hatte die Lippen verloren, aber die Ärzte vermuteten, die Stimmbänder hätten keinen irreparablen Schaden erlitten und die Verbrennungen an Zunge und Kehlkopf seien schon vor Monaten geheilt. Ihrer Meinung nach sagte Julián nur deshalb nichts, weil sein Geist erloschen war. Als wir beide eines Abends, sechs Monate nach dem Brand, allein im Zimmer waren, beugte ich mich über ihn und küßte ihn auf die Stirn.
»Ich liebe dich«, sagte ich.
Ein bitteres, heiseres Geräusch quoll aus der Hundegrimasse, zu der der Mund geworden war. Seine Augen waren gerötet. Ich wollte sie ihm mit einem Taschentuch trocknen, aber er wiederholte dieses Geräusch.
»Laß mich«, hatte er gesagt.Laß mich.Zwei Monate nach dem Brand des Lagers in Pueblo Nuevo hatte der Verlag Cabestany Konkurs gemacht. Der alte Cabestany, der noch in diesem Jahr das Zeitliche segnete, hatte prophezeit, sein Sohn werde es fertigbringen, die Firma in sechs Monaten zu ruinieren — ein unverbesserlicher Optimist bis ins Grab. Ich versuchte, in einem andern Verlag Arbeit zu finden, doch der Krieg verschlang alles. Jedermann sagte, er werde bald zu Ende sein und dann werde alles besser. Doch er sollte noch zwei Jahre dauern, und was nachher kam, war womöglich noch schlimmer. Elf Monate nach dem Brand sagten die Ärzte, was sich in einem Krankenhaus tun lasse, sei getan worden, die Zeiten seien schwierig und man brauche das Zimmer, ich solle ihn doch in ein Sanatorium wie das Heim Santa Lucía einweisen. Doch ich weigerte mich. Im Oktober 1937 nahm ich ihn mit nach Hause. Seit jenem
»Laß mich« hatte er kein Wort mehr gesagt.
Ich sagte ihm jeden Tag, ich liebe ihn. Er saß in einem Sessel vor dem Fenster, in Wolldecken eingepackt. Ich ernährte ihn mit Fruchtsäften, Toast und Milch, wenn ich welche fand. Täglich las ich ihm zwei Stunden vor, Balzac, Zola, Dickens… Allmählich nahm er wieder zu. Kurz nach unserer Rückkehr nach Hause begann er die Hände und Arme zu bewegen und neigte den Kopf zur Seite. Manchmal lagen, wenn ich zurückkam, die Decken auf dem Boden, und einige Gegenstände waren umgeworfen. Eines Tages robbte er über den Boden. Anderthalb Jahre nach dem Brand erwachte ich einmal mitten in einer Gewitternacht. Jemand hatte sich auf mein Bett gesetzt und strich mir übers Haar. Die Tränen verbergend, lächelte ich ihm zu. Er hatte einen meiner Spiegel ausfindig gemacht, obwohl ich sie alle versteckt hatte. Mit krächzender Stimme sagte er, er sei zu einem seiner Romanungeheuer geworden, zu Laín Coubert. Ich wollte ihn küssen, ihm zeigen, daß mich sein Aussehen nicht schreckte, aber er ließ mich nicht. Bald würde er nicht einmal mehr zulassen, daß ich ihn berührte. Täglich gewann er neue Kraft. Er strich in der Wohnung umher, während ich etwas zu essen auftrieb. Mit den Ersparnissen, die Miquel hinterlassen hatte, hielten wir uns zwar zunächst über Wasser, aber nach kurzer Zeit mußte ich anfangen, Schmuck und alten Krempel zu verkaufen. Als es nicht mehr anders ging, versilberte ich die in Paris erstandene Füllfeder Victor Hugos an den Meistbietenden. Hinter dem Gebäude der Militärregierung fand ich einen Laden, der diese Art Waren annahm. Den Geschäftsführer schien mein feierlicher Schwur nicht sehr zu beeindrucken, der Füller habe Victor Hugo gehört, aber er anerkannte, daß es ein meisterhaftes Stück war, und bezahlte mir, soviel er konnte, schließlich waren es Zeiten der Not und des Elends. Als ich Julián sagte, ich hätte sie verkauft, fürchtete ich, er werde zornig werden. Doch er sagte bloß, ich hätte gut daran getan, er habe sie nie wirklich verdient.
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