Ich lächle jeden Tag und teile das Bett mit ihm. Wenn er mich fragt, ob ich ihn liebe, bejahe ich, und wenn ich die Wahrheit in seinen Augen lese, möchte ich sterben. Er macht es mir nie zum Vorwurf. Er spricht viel von dir und vermisst dich. So sehr, dass ich manchmal denke, du seist die Person, die er auf dieser Welt am meisten liebt. Ich sehe, wie er einsam älter wird, in der denkbar schlechtesten Gesellschaft, der meinen. Ich kann nicht verlangen, dass du mir verzeihst, aber wenn ich mir auf dieser Welt etwas wünsche, dann, dass du ihm verzeihst. Ich bin es nicht wert, dass du ihm deine Freundschaft und Gesellschaft entziehst.
Gestern habe ich eines deiner Bücher zu Ende gelesen. Pedro hat sie alle, und ich habe sie eines nach dem anderen gelesen, weil das die einzige Möglichkeit ist, mich dir nahe zu fühlen. Es war eine traurige, seltsame Geschichte — von zwei zerbrochenen, verlassenen Puppen in einem Wanderzirkus, die für eine Nacht zum Leben erwachen, aber wissen, dass sie im Morgengrauen sterben müssen. Als ich sie las, hatte ich das Gefühl, du schriebest über uns.
Vor einigen Wochen habe ich geträumt, ich hätte dich wiedergesehen, wir wären uns auf der Straße begegnet und du hättest dich nicht mehr an mich erinnert. Du hast mir zugelächelt und mich gefragt, wie ich heiße. Du wusstest nichts von mir. Du hast mich nicht gehasst. Jeden Abend, wenn Pedro neben mir einschläft, schließe ich die Augen und bitte den Himmel oder die Hölle darum, mich noch einmal dasselbe träumen zu lassen.
Morgen oder vielleicht übermorgen werde ich dir wieder schreiben, um dir zu sagen, dass ich dich liebe, obwohl dir das nichts bedeutet.
Cristina
Ich ließ den Brief zu Boden gleiten, unfähig, weitere zu lesen. Morgen ist wieder ein Tag, sagte ich mir. Es konnte schwerlich noch schlimmer kommen. Ich konnte nicht ahnen, dass die besonderen Wonnen erst ihren Anfang genommen hatten. Ich musste etwa zwei Stunden geschlafen haben, als ich mitten in der Nacht aufschreckte. Jemand hämmerte an die Wohnungstür. Einige Sekunden tastete ich im Finstern verwirrt nach der Lampenschnur. Erneut wurde an die Tür gehämmert. Ich machte Licht, sprang aus dem Bett und ging zur Tür, wo ich den Deckel des Gucklochs zurückschob. Drei Gesichter im Halbdunkel des Treppenabsatzes. Inspektor Grandes und hinter ihm Marcos und Castelo, alle drei starrten. Ich atmete zweimal tief durch, dann öffnete ich.
»Guten Abend, Martín. Entschuldigen Sie die späte Stunde.«
»Wie spät ist es denn?«
»Spät genug, um deinen Arsch zu bewegen, du Mistkerl«, knurrte Marcos, was Castelo ein Lächeln abnötigte, mit dem ich mich hätte rasieren können.
Grandes warf ihnen einen missbilligenden Blick zu und seufzte.
»Kurz nach drei. Darf ich reinkommen?«
Verärgert nickte ich und machte ihm Platz. Er bedeutete seinen Männern, draußen zu warten. Sie bedachten mich mit einem Reptilienblick und blieben widerwillig stehen. Ich knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
»Sie sollten mit den beiden etwas vorsichtiger sein«, sagte Grandes, während er ungezwungen durch den Korridor marschierte.
»Fühlen Sie sich wie zuhause«, sagte ich.
Ich ging ins Schlafzimmer und zog das Erstbeste an, was ich auf einem Stuhl mit schmutziger Wäsche fand. Als ich wieder auf den Korridor trat, war von Grandes keine Spur zu sehen.
Ich fand ihn in der Veranda, wo er durchs Fenster den über die Dächer kriechenden Wolken zusah.
»Und das süße Püppchen?«, fragte er.
»Bei sich zuhause.«
Lächelnd wandte er sich um.
»Sehr weise, ihr keine Vollpension anzubieten.«
Er deutete auf einen Sessel. »Setzen Sie sich.«
Ich ließ mich in den Fauteuil fallen. Grandes blieb stehen und schaute mich unverwandt an.
»Was gibt es?«, fragte ich schließlich.
»Sie sehen schlecht aus, Martín. Sind Sie in eine Schlägerei geraten?«
»Ich bin gestürzt.«
»Mhm. Ich glaube, Sie haben heute den Zauberladen von Señor Damián Roures in der Calle Princesa aufgesucht.«
»Sie haben mich doch heute Mittag dort rauskommen sehen — was soll das Ganze?«
Grandes schaute mich kalt an.
»Nehmen Sie Ihren Mantel und einen Schal oder was auch immer. Es ist kalt. Wir gehen aufs Revier.«
»Wozu?«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Ein Wagen des Präsidiums wartete auf dem Paseo del Born. Marcos und Castelo schoben mich ohne viel Federlesens hinein und zwängten sich links und rechts neben mich.
»Sitzt der junge Herr auch bequem?«, fragte Castelo und rammte mir den Ellbogen in die Rippen.
Der Inspektor setzte sich vorn neben den Fahrer. In den fünf Minuten, die wir durch die menschenleere, in ockerfarbenem Nebel liegende Vía Layetana fuhren, sagte keiner der drei ein Wort. Beim Zentralrevier angekommen, ging Grandes hinein, ohne auf uns zu warten. Mit einem Knochenbrechergriff packten mich Marcos und Castelo je an einem Arm und schleiften mich durch ein Labyrinth von Treppen, Gängen und Zellen zu einem fensterlosen Raum, der nach Schweiß und Urin stank. In der Mitte stand ein wurmstichiger Holztisch mit zwei schäbigen Stühlen. An der Decke hing eine nackte Glühbirne, und mitten im Fußboden, wo die leicht gegeneinander geneigten Flächen zusammenliefen, war ein Abflussgitter eingelassen. Es war eisig kalt. Ehe ich mich’s versah, wurde hinter mir die Tür ins Schloss geworfen. Ich hörte wie sich die Schritte entfernten. Zwölf Runden drehte ich in diesem Kerker, bevor ich mich auf einen der wackligen Stühle fallen ließ. In der folgenden Stunde hörte ich kein einziges Geräusch außer meinem Atem dem knarrenden Stuhl und dem Tropfen irgendeiner undichten Stelle, die ich nicht ausfindig machen konnte.
Eine Ewigkeit später vernahm ich den Hall näher kommender Schritte, und kurz danach öffnete sich die Tür. Marcos grinste herein und hielt Grandes die Tür auf, der eintrat, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und auf dem Stuhl am anderen Tischende Platz nahm. Er gab Marcos ein Zeichen, worauf dieser die Tür wieder schloss, nachdem er mir mit einem Augenzwinkern einen Kuss durch die Luft geschickt hatte. Der Inspektor geruhte erst nach einer guten halben Minute, mir ins Gesicht zu schauen.
»Wenn Sie mich beeindrucke wollten, dann haben Sie es bereits geschafft, Inspektor.«
Er überhörte meine Ironie und starrte mich an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.
»Was wissen Sie von Damián Roures?«, fragte er.
Ich zuckte die Schultern
»Nicht viel. Dass er einen Laden für Zauberartikel besitzt. Tatsächlich wusste ich bis vor einigen Tagen nicht einmal das, bis Ricardo Salvador mir von ihm erzählte. Heute oder gestern, ich weiß schon gar nicht mehr, wie spät es ist, habe ich ihn aufgesucht, weil ich mehr über den Mann herausfinden wollte, der vor mir in meiner jetzigen Wohnung gewohnt hat. Salvador sagte mir, Roures und der ehemalige Besitzer…«
»Marlasca.«
»Ja, Diego Marlasca. Wie gesagt, Salvador hat mir erzählt, Roures und Marlasca hätten vor Jahren miteinander zu tun gehabt. Ich stellte ihm einige Fragen, und er hat nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet. Das ist eigentlich alles.«
Grandes nickte mehrmals.
»Das ist Ihre Geschichte?«
»Ich weiß nicht. Welches ist Ihre? Vergleichen wir sie doch, und dann verstehe ich vielleicht endlich, was zum Teufel ich hier mitten in der Nacht verloren habe und warum ich mir in einem Kellerloch, das nach Scheiße stinkt, die Füße abfriere.«
»Schreien Sie mich nicht an, Martín.«
»Entschuldigen Sie, Inspektor, aber ich finde, Sie könnten mir wenigstens sagen, was ich hier tue.«
»Ich werde Ihnen sagen, was Sie hier tun. Vor etwa drei Stunden ist ein Bewohner des Hauses, in dem sich Señor Roures’ Laden befindet, spät heimgekommen und hat gesehen, dass die Ladentür offen stand und das Licht darin brannte. Das hat ihn erstaunt, und er ist eingetreten, und als er den Inhaber nicht gesehen und dieser auf seine Rufe auch nicht geantwortet hat, ist er ins Hinterzimmer gegangen, wo er ihn inmitten einer Blutlache mit Draht an einen Stuhl gefesselt fand.«
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