»Señor Martín, glauben Sie mir, je weiter Sie sich von diesem Haus und dieser ganzen Geschichte fernhalten, desto besser für Sie. Nehmen Sie von mir wenigstens diesen Rat an.«
Der Fahrer bog in den Paseo de Colón ein, um dann durch die Calle Comercio zum Paseo del Born zu gelangen. Vor dem großen Marktgelände stauten sich bereits die Karren mit Fleisch und Fisch, Eis und Gewürzen. Neben uns luden ein paar Burschen ein aufgeschlitztes Kalb ab und hinterließen eine Blut- und Dunstspur, die in der Luft zu riechen war.
»Ein Viertel voller Charme und pittoresker Bilder, das sie da haben, Señor Martín.«
Der Fahrer hielt an der Einmündung der Calle Flassaders und stieg aus, um uns die Tür zu öffnen. Der Anwalt stieg ebenfalls aus.
»Ich begleite Sie zur Tür«, sagte er.
»Man wird uns für ein Paar halten.«
Wir gingen durch die dunkle Schlucht der Gasse zu meinem Haus. Vor der Tür gab mir der Anwalt mit professioneller Höflichkeit die Hand.
»Danke, dass Sie mich da herausgeholt haben«, sagte ich.
»Danken Sie nicht mir dafür.«
Er zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels.
Ich erkannte das Engelssiegel sogar im Dämmerlicht, das von der Lampe an der Mauer über unseren Köpfen troff. Valera übergab mir den Umschlag und kehrte nach einem letzten Nicken zum Auto zurück. Ich schloss die Haustür auf, und in der Wohnung ging ich direkt in mein Arbeitszimmer, wo ich den Umschlag öffnete und das zusammengefaltete Blatt mit den kunstvollen Schriftzügen des Patrons herauszog.
Lieber Martín,
ich hoffe und wünsche mir, dass diese Note Sie in guter körperlicher und seelischer Verfassung antrifft. Die Umstände erfordern es, dass ich kurz in der Stadt hin, und es würde mich sehr freuen, an diesem Freitag um sieben Uhr abends im Billardraum des Reitklubs in den Genuss Ihrer Gesellschaft zu kommen, um über die Fortschritte unseres Projekts zu sprechen.
Bis dahin grüßt Sie herzlich Ihr Freund Andreas Corelli
Ich faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es behutsam in den Umschlag. Dann zündete ich ein Streichholz an, ergriff das Kuvert an einer Ecke und hielt es über die Flamme. Ich sah zu, wie es brannte, bis der Lack scharlachrot auf den Schreibtisch tropfte und meine Finger voller Asche waren.
»Fahren Sie zur Hölle«, murmelte ich, während mir die Nacht jenseits der Fenster finsterer vorkam denn je.
Im Arbeitszimmer wartete ich im Sessel auf eine Morgendämmerung, die nicht kommen wollte, bis mich die Wut aus dem Haus trieb, um der Warnung von Anwalt Valera zu trotzen. Draußen pfiff die schneidende Kälte, die im Winter dem Tagesanbruch vorangeht. Beim Überqueren des Paseo del Born glaubte ich Schritte hinter mir zu hören. Ich sah mich um, erblickte aber niemanden außer den Marktburschen, die die Wagen abluden, und setzte meinen Weg fort. Auf der Plaza del Palacio sichtete ich im Dunst, der vom Hafen heranzog, die Lichter der ersten Straßenbahn. Schon sah ich über der Oberleitung blaue Funken sprühen. Ich stieg ein und setzte mich ganz nach vorn. Den Fahrschein händigte mir derselbe Schaffner wie beim vorigen Mal aus. Nach und nach tröpfelte ein Dutzend Fahrgäste herein, alle allein. Wenige Minuten später ruckte die Bahn los, während sich am Himmel zwischen schwarzen Wolken ein Netz rötlicher Kapillaren aufspannte. Man musste kein Dichter oder Weiser sein, um zu wissen, dass es kein schöner Tag werden würde.
Als wir in Sarrià eintrafen, war der Tag mit einem fahlen Licht angebrochen, in dem alles farblos schien. Ich stieg die einsamen Gassen des Viertels zur Flanke des Berges hinauf. Wieder glaubte ich bisweilen Schritte hinter mir zu hören, aber immer, wenn ich stehen blieb und mich umschaute, war niemand da. In dem Gässchen, das zum Haus Marlasca führte, bahnte ich mir einen Weg durch die Laubdecke, die unter meinen Füßen raschelte. Langsam ging ich durch den Patio und stieg die Stufen zur Haustür hinauf, wo ich seitlich durch die Fenster spähte. Ich ließ den Türklopfer dreimal fallen und trat einige Schritte zurück. Als ich nach einer Minute keine Antwort bekam, klopfte ich abermals. Das Echo der Schläge verlor sich im Inneren.
»Hallo?«, rief ich.
Die Bäume, die das Haus umgaben, schienen den Klang meiner Stimme zu verschlucken. Ich ging ums Haus herum bis in den Garten mit dem Schwimmbecken und von dort zu der verglasten Veranda. Die Fenster waren hinter halb geschlossenen Holzläden verborgen, sodass man nicht hineinsehen konnte. Eines der Fenster, direkt neben der Glastür der Veranda, war nur angelehnt. Durch die Scheibe war der Türriegel zu erkennen, und als ich mit dem Arm durch das offene Fenster langte, konnte ich ihn zurückzuschieben. Die Tür gab mit einem metallischen Geräusch nach. Ich sah mich noch einmal um und vergewisserte mich, dass niemand da war, dann trat ich ein.
Sowie sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, wurden die Konturen des Zimmers erkennbar. Ich drückte leicht die Fensterläden auf, um ein wenig Licht hereinzulassen. Ein Fächer aus Strahlen ließ die Gegenstände im Raum hervortreten.
»Jemand da?«, rief ich.
Meine Stimme verlor sich im Haus wie eine Münze in einem bodenlosen Schacht. Ich ging quer durch den Raum, wo ein gebogener, mit Holz verzierter Durchgang auf einen dunklen Korridor hinausführte. Zu beiden Seiten hingen an samtbezogenen Wänden verschwommene Gemälde. Am Ende des Korridors öffnete sich ein großer runder Salon mit Mosaikböden und einem Wandbild wie Email, auf dem eine weiße Engelsgestalt mit ausgestrecktem Arm und Fingern aus Feuer zu sehen war. Eine breite Steintreppe führte an den Wänden des Raums entlang in einer Spirale nach oben. An ihrem Fuß blieb ich stehen und rief erneut.
»Hallo? Señora Marlasca?«
Das Haus lag in vollkommener Stille da, meine Worte verklangen in einem schwachen Widerhall. Ich stieg zum ersten Stock hinauf und blieb auf dem Treppenabsatz stehen, von dem aus man den Salon mit dem Wandbild überblicken konnte. Ich sah meine Fußabdrücke in der Staubschicht auf dem Boden. Außerdem sah ich im Staub eine Art Gleis aus zwei parallelen Linien im Abstand von zwei oder drei Handbreit und dazwischen Fußabdrücke. Große Fußabdrücke. Verwirrt betrachtete ich diese Spur, bis mir aufging, was ich da sah. Die Spur eines Rollstuhls und die Fußstapfen der Person, die ihn geschoben hatte.
Ich glaubte hinter mir ein Geräusch zu hören und wandte mich um. Eine angelehnte Tür am Ende des Flurs bewegte sich leicht. Ein kalter Wind kam von dort. Langsam ging ich auf die Tür zu. Dabei warf ich einen Blick in die Zimmer auf beiden Seiten — Schlafzimmer, deren Möbel mit weißen Tüchern zugedeckt waren. Die geschlossenen Fenster und das stickige Halbdunkel ließen ahnen, dass sie seit langem unbenutzt waren, mit Ausnahme eines etwas größeren Raums, in dem sich ein Ehebett befand. Ich trat ein und roch die seltsame Mischung aus Parfüm und Krankheit, die alte Menschen verströmen. Vermutlich war dies das Zimmer der Witwe Marlasca, aber nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin.
Das Bett war ordentlich gemacht. Davor stand eine Kommode mit einer Reihe gerahmter Porträts. Ausnahmslos auf allen war ein Junge mit hellen Haaren und fröhlichem Gesicht zu sehen. Ismael Marlasca. Auf einigen posierte er mit seiner Mutter oder mit anderen Kindern. Nirgends erschien Diego Marlasca.
Wieder schreckte mich das Geräusch einer klappenden Tür auf, und ich verließ das Schlafzimmer und die Fotos. Die Tür am Ende des Flurs bewegte sich immer noch leicht. Bevor ich eintrat, hielt ich einen Augenblick inne und atmete tief ein, dann stieß ich die Tür auf.
Alles war weiß. Wände und Decke waren makellos weiß gestrichen. Weiße Seidengardinen. Ein kleines, mit weißen Tüchern bezogenes Bett. Ein weißer Teppich. Weiße Regale und Schränke. Nach dem Halbdunkel im übrigen Haus war ich von so viel Helligkeit einige Sekunden lang geblendet. Der Raum schien einem Traum, einer Märchenphantasie entsprungen. In den Regalen Spielzeuge und Märchenbücher. Vor einem Toilettentisch saß ein lebensgroßer Harlekin aus Porzellan und betrachtete sich im Spiegel. An der Decke hing ein Mobile aus weißen Vögeln. Auf den ersten Blick wirkte es wie das Zimmer eines verhätschelten Kindes, Ismael Marlasca, aber es hatte die beklemmende Atmosphäre einer Totenkammer.
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