Ich setzte mich aufs Bett. Erst jetzt merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war der Geruch — ein süßlicher Gestank lag in der Luft. Ich stand auf, schaute mich um und ging zweimal im Zimmer auf und ab, ohne die Ursache finden zu können. Auf einem Sakristeischrank befand sich ein Porzellanteller mit einer schwarzen Kerze inmitten dunkler Tropfen. Ich drehte mich um. Der Gestank schien vom Kopfende des Bettes herzukommen. Ich zog die Nachttischschublade auf und fand ein in drei Teile zerbrochenes Kruzifix. Der Gestank war stärker geworden. Da sah ich es — unter dem Bett lag etwas. Ich kniete nieder und zog eine der Blechdosen hervor, in denen Kinder ihre Schätze verwahren, und stellte sie auf das Bett. Der Gestank war jetzt viel deutlicher und durchdringender. Ich ignorierte die aufsteigende Übelkeit und nahm den Deckel ab. In der Dose lag eine weiße Taube, deren Herz mit einer Nadel durchbohrt war. Ich wich einen Schritt zurück, bedeckte Mund und Nase mit der Hand und floh dann auf den Flur hinaus. Im Spiegel beobachteten mich die Augen des schakalisch grinsenden Harlekins. Ich rannte zur Treppe und stürzte die Stufen hinunter, um zu dem in die Veranda führenden Korridor und der Tür zu gelangen, die ich vom Garten aus geöffnet hatte. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte mich verirrt und das Haus wolle mich nicht hinauslassen, als wäre es ein Wesen, das Flure und Zimmer nach Lust und Laune verschieben konnte. Endlich sah ich die verglaste Veranda und lief zur Tür. Erst als ich mit dem Riegel rang, hörte ich das heimtückische Lachen hinter mir und wusste, dass ich in diesem Haus nicht allein war. Ich wandte mich um und sah eine dunkle Gestalt, die mich vom anderen Ende des Korridors beobachtete. Sie hatte einen glänzenden Gegenstand in der Hand. Ein Messer.
Das Schloss gab nach, und ich stieß die Tür mit solcher Wucht auf, dass ich der Länge nach auf die Marmorplatten am Schwimmbecken fiel. Mein Gesicht landete nur eine Handbreit von der Wasseroberfläche entfernt, sodass mir der Gestank des fauligen Wassers in die Nase stieg. Ich starrte ins Dunkel über dem Beckengrund. Da tat sich zwischen den Wolken ein Spalt auf, und die Sonne schien ins Wasser und strich über den zerbröckelten Mosaikboden. Das Bild zeigte sich nur einen Augenblick. Der Rollstuhl war auf dem Grund gestrandet und nach vorn gekippt. Das Licht wanderte weiter bis zur tiefsten Stelle des Schwimmbeckens, und dort erblickte ich sie. An der Seitenwand lehnte ein Körper, in ein weißes, im Wasser schwebendes Kleid gehüllt. Zuerst dachte ich an eine Puppe — die scharlachroten Lippen waren im Wasser aufgequollen, die Augen leuchteten wie Saphire. Langsam wallte das rote Haar im fauligen Wasser, die Haut war blau. Die Witwe Marlasca. Eine Sekunde später zogen sich die Wolken wieder zusammen, und das Wasser war der trübe Spiegel von ehedem, in dem ich nur mein Gesicht und einen Schatten sehen konnte, der jetzt hinter mir auf der Schwelle der Veranda mit dem Messer in der Hand Gestalt annahm. Ich schoss hoch und rannte los, durch den Garten, zwischen den Bäumen hindurch, mir an den Büschen Gesicht und Hände zerkratzend, bis ich zum Eisentor und auf die Straße gelangte. Ich rannte weiter und blieb erst auf der Carretera de Vallvidrera stehen. Völlig außer Atem, wandte ich mich um und sah, dass das Haus Marlasca wieder am Ende des Gässchens verborgen war, unsichtbar für die Welt.
Mit derselben Straßenbahn fuhr ich zurück, durch eine Stadt, die unter einem eisigen, Laub aufwirbelnden Wind von Minute zu Minute düsterer wurde. Als ich auf der Plaza Palacio ausstieg, hörte ich zwei von den Molen kommende Matrosen von einem Unwetter sprechen, das sich vom Meer her näherte. Tatsächlich ballten sich am Himmel nach und nach rote Wolken zusammen, die wie vergossenes Blut vom Meer kamen. In den Straßen um den Paseo del Born befestigten die Leute Türen und Fenster, die Krämer schlossen vorzeitig die Läden, und die Kinder kamen aus den Häusern, um mit ausgebreiteten Armen gegen den Wind anzurennen und über das Krachen des Donners zu lachen. Die Straßenlampen flackerten, und die Blitze überzogen die Fassaden mit weißem Licht. Ich hastete zum Haus mit dem Turm und stürzte die Treppe hinauf. Hinter den Mauern hörte man das Toben des Gewitters näher kommen.
In der Wohnung war es so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte, als ich in den Korridor trat. In einem Abstellraum hatte ich ein altes Kohlenbecken, das ich erst vier- oder fünfmal benutzt hatte und das ich nun mit alten Zeitungen anzündete. Dasselbe tat ich mit dem Kamin in der Veranda. Dann setzte ich mich vor den Flammen auf den Boden. Meine Hände zitterten, ich wusste nicht, ob vor Kälte oder vor Angst. Während ich darauf wartete, dass es warm wurde, betrachtete ich das Netz aus weißem Licht, das die Blitze an den Himmel zeichneten.
Der Regen ließ lange auf sich warten, dann aber stürzte er in wilden Tropfenvorhängen nieder, die in Minutenschnelle alles Licht erstickten, Dächer und Gassen ertränkten und Wände und Scheiben peitschten. Dank Kohlenbecken und Kaminfeuer erwärmte sich die Wohnung langsam, aber mir war immer noch kalt. Ich ging ins Schlafzimmer, um Decken zu holen und mich einzuwickeln. Ich öffnete den Schrank und begann, unten in den beiden großen Schubladen zu wühlen. Das Kästchen war noch da, ganz hinten versteckt. Ich legte es aufs Bett.
Ich betrachtete die alte Pistole meines Vaters, das Einzige, was mir von ihm geblieben war. Mit dem Zeigefinger streichelte ich den Abzug. Aus dem Munitionsfach im doppelten Boden des Kästchens nahm ich sechs Kugeln und steckte sie in die Trommel. Dann legte ich das Kästchen auf den Nachttisch und ging mit der Pistole und einer Decke in die Veranda zurück. Eingemummt, die Waffe auf der Brust, legte ich mich aufs Sofa und verlor mich in der Betrachtung des Gewitters vor dem Fenster. Ich hörte die Uhr auf dem Kaminsims ticken und brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass bis zum Treffen mit dem Patron im Billardraum des Reitklubs nur noch eine halbe Stunde fehlte.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie er durch die menschenleeren, überschwemmten Straßen der Stadt fuhr, stellte ihn mir im Fond seines Wagens vor, in der Dunkelheit glänzten seine goldenen Augen, während sich der Silberengel auf der Kühlerhaube des Rolls-Royce einen Weg durchs Gewitter bahnte. Ich dachte ihn mir reglos wie eine Statue, weder atmend noch lächelnd, ohne jeden Ausdruck. Gleich darauf hörte ich das brennende Holz knacken und hinter den Scheiben den Regen prasseln. Ich schlief mit der Waffe in den Händen und der Gewissheit ein, dass ich nicht zu dem Treffen gehen würde.
Kurz nach Mitternacht öffnete ich die Augen. Das Feuer war fast niedergebrannt, und die Veranda lag in dem tanzenden Dämmerlicht, das die letzte Glut in den Raum warf. Noch immer regnete es in Strömen. Die Pistole war nach wie vor in meinen Händen, jetzt lauwarm. Einige Sekunden blieb ich liegen, ohne zu blinzeln. Ich wusste, dass jemand vor der Tür stand, noch bevor ich das Klopfen hörte.
Ich warf die Decke ab und richtete mich auf. Wieder das Klopfen. Fingerknöchel an der Wohnungstür. Mit der Waffe in der Hand stand ich auf und trat in den Korridor hinaus. Erneutes Klopfen. Ich ging einige Schritte auf die Tür zu und blieb stehen. Ich stellte ihn mir vor, wie er lächelnd auf dem Treppenabsatz stand, wie der Engel am Revers in der Dunkelheit leuchtete. Ich spannte die Pistole. Und abermals wurde angeklopft. Ich wollte das Licht anschalten, doch es gab keinen Strom. Ich ging weiter, bis zur Tür. Den Deckel des Gucklochs zurückzuschieben traute ich mich nicht. Reglos blieb ich stehen, fast ohne zu atmen, und richtete die Waffe auf die Tür.
»Gehen Sie«, rief ich mit kraftloser Stimme.
Da hörte ich auf der anderen Seite ein Weinen und ließ die Waffe sinken. Ich öffnete die Tür zur Dunkelheit, und da stand sie. Ihre Kleider waren durchnässt, und sie zitterte. Ihre Haut war eiskalt. Als sie mich erblickte, wäre sie mir beinahe ohnmächtig in die Arme gefallen. Ich hielt sie fest und drückte sie wortlos an mich. Sie lächelte mich matt an, und als ich die Hand an ihre Wange hob, küsste sie sie mit geschlossenen Augen.
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