Im Dorf war es still. Die Soldaten der Kompanie lagen in ihren Unterkünften und warteten auf Befehle. Manchmal schien es, als rückten die Granateinschläge näher, als wären die Detonationen nicht mehr so weit entfernt wie vorher. Als Warasin am Ende des Dorfes anlangte, merkte er, daß diese Vermutung richtig war. Von der deutschen Seite schossen ein paar schwere Geschütze ins Hinterland. Die Einschläge waren vom Dorfrand aus zu sehen. Die Schlittenkolonne riß ab, und die Straße war mit einemmal frei. Warasin beschleunigte seine Schritte. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Es war kalt in dieser Nacht. Immer wenn die Wolken verschwanden und die Nächte klar und voller Sterne waren, kam die Kälte und ließ den Schnee hart werden unter den Stiefeln.
Hinter dem Dorf gab es keine Soldaten mehr. Eine Stille umgab Warasin, die durch den fernen Lärm der Geschütze nur noch betont wurde. Warasin schritt aus. Er klappte den Kragen des Mantels hoch und stapfte mit gesenktem Kopf über den festgefahrenen Schnee der Straße, bis er an den Weg kam, der zu Annas Gehöft führte. Von hier aus war es nicht mehr weit, und bald konnte Warasin den Rauch erkennen, der aus dem Schornstein stieg.
Das Hoftor war nur angelehnt. Die Haustür war offen. Warasin schloß sie hinter sich und trat in die Küche.
Anna hörte ihm geduldig zu, bis er alles gesagt hatte, was zu sagen war. Sie stand am Herd, das Haar sorgfältig wie immer im Nacken geknotet, ein Wolltuch über den Schultern. Sie hatte traurige Augen, aber ihre Stimme war genauso wie immer, als sie sagte: »Er ist weggegangen. Er wollte mit sich allein sein und nachdenken. Wir hatten darüber gesprochen. Ich habe nicht viel gesagt. Ich bin immer allein gewesen, und wenn er fort ist, werde ich wieder allein sein. Wie immer. Es ist eben mein Leben. Es ist so sehr mein Leben gewesen, das ich nicht einmal mehr die Kraft aufbringe, dagegen zu kämpfen.«
Sie sagte es mit einer Bitterkeit, die Warasin noch nie bei ihr beobachtet hatte. Er saß am Küchentisch und sah ihr zu, wie sie hinten am Herd hantierte.
»Wird er zurückkommen?« erkundigte er sich zögernd. Er war verwirrt. Von der einen Säte stürmten die Worte Balaschows auf ihn ein, von der anderen Seite blickten die Augen Annas, kam ihre Stimme mit dieser Nuance von Bitterkeit und Vorwurf.
Sie wandte den Kopf und sah ihn an. »Er hat mir gesagt, daß er sich draußen irgendwo darüber klarwerden will, was er tun wird. Er ist eigenartig in solchen Sachen. Er läßt Ihnen sagen, wenn er zurückkommt, wird er mit Ihnen gehen. Wenn er nicht zurückkommt, dann sollen Sie die Patrouille nach ihm ausschicken.«
Warasin schwieg. Draußen grummelten die Geschütze.
»Was ist das?« fragte Anna leise. »Kommen sie etwa wieder? Wenn sie wiederkommen und erfahren, daß ich Sie versteckt hatte, werden sie mich erschießen.«
»Sie werden nicht wiederkommen«, sagte Warasin, »Sie brauchen sich nicht mehr vor ihnen zu fürchten. Sie kommen nicht wieder.«
»Haben Sie mit Ihrem Kommandeur gesprochen?«
,Ja.«
Sie atmete tief. Dann sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm: »Wenn jetzt Thomas nicht wiederkommt, dann werden mich eure Leute dafür an die Wand stellen.«
»Das werden sie nicht tun«, sagte Warasin schnell.
Aber die Frau machte eine müde Handbewegung. »Es ist mir gleich. Dieser Krieg zerreibt jeden zwischen seinen Mahlsteinen, zuerst die, die in der Mitte stehen wollen zwischen den beiden Fronten. Ich bin darauf gefaßt. Wenn Thomas fort ist, werde ich hier sitzen und darauf warten, daß ich sterbe. Einmal habe ich geglaubt, stärker zu sein als alles, was um mich herum stark zu sein schien. Das ist vorbei.«
»Hören Sie doch, Anna«, sagte Warasin, »er wird nach dem Krieg zurückkommen. Er ist Soldat, und er wird Gefangener sein, und nach dem Krieg wird er zurückkommen. Hierher.«
»Nach dem Krieg«, sagte die Frau, »dann werde ich eine alte Frau sein mit weißem Haar. Und auf den Feldern wird vor lauter Melde kein Korn mehr gedeihen.
Die Pflüge werden verrostet sein und zerbrechen. Auch wir werden zerbrochen sein. Wir sind es jetzt schon.«
Er stand auf und trat ans Fenster. Er zog den Vorhang in der Mitte ein wenig auseinander und blickte durch den Schlitz hinaus in die Winternacht. Nach einer Weile ließ er den Vorhang achtlos zurückfallen und drehte sich um. Das Tuch bedeckte die Scheibe nicht mehr, aber er kümmerte sich nicht darum. Er setzte sich wieder an den Tisch und sagte: »Einmal werden Sie das alles viel besser verstehen, Anna. Auch Thomas Bindig wird es verstehen.«
»Wenn er zurückkommtl« sagte die Frau. »Wenn er in einer Stunde nicht zurück ist, können Sie die Patrouille losschicken. Er hat es mir gesagt. Es ist mir gleich.«
»Aber mir ist es nicht gleich«, sagte Warasin.
»Ihnen?«
»Ja. Ich kenne ihn besser, als er glaubt. Er ist zu jung, um für die Bande zu sterben, die ihm eingebleut hat, daß er ein Held sei, wenn er für sie stirbt. Und er ist klug und kann ein anderer Mensch werden. Unsere Leute werden ihm dabei helfen.«
»Ihr werdet euch andere suchen müssen als ihn. Welche, die nicht durch die Hölle gegangen sind, aus der er kam.«
»Wir werden uns auch andere nehmen«, sagte Warasin, »bei manchen anderen wird es leichter sein, sie Recht und Unrecht unterscheiden zu lehren. Aber wir werden Bindig nicht auslassen und alle anderen nicht, die seinen Weg gegangen sind. Es wird uns schwer fallen, wenn wir uns erinnern, was sie getan haben, aber wir werden Geduld mit ihnen haben, wenn sie es wert sind.«
Die Frau setzte sich auf einen Hocker in der Ecke hinter dem Herd. Sie stützte den Kopf in die Hände und sagte: »Ihr nehmt euch viel vor. Noch habt ihr nicht gesiegt, aber ihr macht schon Pläne für später. Man weiß nicht, ob man euch belächeln soll oder bewundern…«
Warasin nickte leicht mit dem Kopf. Er stand am Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, die Augen auf die Tür gerichtet, und wartete darauf, daß Bindig eintreten würde.
»Den Sieg wird uns niemand mehr nehmen«, sagte er leise, »Bindig und so viele andere Bindigs sollen bis dahin lernen, ein besseres Deutschland zu bauen. Mein Gott, sie können es lernen, wenn sie den Willen dazu haben…«
Das Artilleriefeuer dauerte an. Manchmal lagen ein paar Einschläge so nahe, daß man sie deutlich aus dem allgemeinen Grollen heraushören konnte.
»Es nimmt gar kein Ende«, sagte die Frau, »es ist, als wollten sie aus der ganzen Erde einen einzigen Brei von Blut und Dreck machen. Sie geben keine Ruhe, bis alles tot ist, was sie töten können…«
Klaus Timm: Wo ich bin, wird gestorben
Seinen ersten Lebenslauf schreibt dieser hagere Mann mit den kalten Augen, als er zur Unteroffiziersschule kommandiert wird. Er ist sechsundzwanzig, und er ist verheiratet mit einer Frau, die in jeder Nacht weint, die er bei ihr verbringt. Timm schreibt nicht gerne, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zum Federhalter zu greifen. Er holt sich drei Flaschen Bier aus der Kantine, und dann beginnt er. Auf dem Zettel, den er abgibt, steht:
»Ich heiße Klaus Timm und wurde 1912 geboren. Mein Vater, Max Timm, war Schuhmachermeister, und auch ich lernte dieses Handwerk. Ich war in Hanau in der Lehre. Habe zwei männliche Geschwister. Gehöre seit 1930 der SA an. In der Kampfzeit war ich bei vielen Kämpfen dabei. 1931 habe ich zum erstenmal den Führer gesehen. 1932 verlor ich die Arbeit wegen nationalsozialistischer Betätigung. Sollte wegen Körperverletzung bestraft werden, der Prozeß wurde aber eingestellt, als der Führer die Macht übernahm. Danach bin ich beim Westwallbau gewesen und bis zur Wehrmacht im Reichsarbeitsdienst als Truppführer. Mein Ziel ist die Unteroffizierslaufbahn.«
Klaus Timm war aus dem Material, aus dem man Unteroffiziere macht. Er stand noch aufrecht, wenn die anderen schon keuchend am Boden lagen. Wenn er auf dem harten Boden der Turnhalle seine Fallübungen machte, zogen die anderen die Köpfe ein. Er war als erster auf den Beinen, wenn vom Turm gesprungen wurde. In der Maschine, wenn sie über den Exerzierplatz flogen, saß er mit eisernem Gesicht, bis gesprungen wurde. Er lief bereits mit vorgestreckter Maschinenpistole vorwärts, wenn die anderen noch ihre Schirme unterliefen. Er wurde nicht müde. Seine Schuhe waren genauso geputzt, wie die Ausbilder es wünschten, und auf seinem Spind fand sich trotz genauester Untersuchung nicht das geringste bißchen Staub. Er tat alles gewissenhaft und vorschriftsmäßig. Als er sein Patent in der Tasche und die Litzen auf den Schulterstücken hatte, ärgerte er sich, weil sie ihn nicht nach Spanien ließen. Aber er wurde wenig später entschädigt. Das war, als Conrad seine Besichtigung abhielt. Conrad war General. Er war der Chef der Truppe und ihr Schrecken. Wenn er kam, ließ er den Soldaten Ausgang geben und ließ dafür die Unteroffiziere über den Exerzierplatz robben. Er tat es mit System, aber nur wenige dachten darüber nach. Jeder wußte: Wenn Conrad erscheint, gibt es einen Tag lang keine Gnade.
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