Timm horchte auf. Sein Gesicht bekam einen gespannten, erwartungsvollen Ausdruck. Er erhob sich, obwohl es ihn große Anstrengung kostete, und trat vor die Mühle. Es war dunkel geworden. Im Westen war der hin und her flackernde Widerschein der Granateinschläge am Horizont. Die Luft war erfüllt von dem dumpfen Gedröhn, und Timm glaubte auch Gewehrfeuer zu hören. Er strengte sein Gehör an und stand lange mit vorgestrecktem Kopf an der Mauer der Mühle. Dann löste sich aus dem Getrommel in der Ferne langsam ein tiefer, brummender Ton, der heller und immer heller wurde. Vom Westen her kamen ein paar Flugzeuge. Timm konnte sie am wolkenverhangenen Himmel nicht erkennen, aber er hörte ihre Motoren immer lauter werden. Die Maschinen zogen eine Kurve. Dann heulten ihre Motoren plötzlich auf, und sie schossen herab, in geringer Höhe über das ebene Land rasend. Das Motorengeheul schreckte Zado auf. Er sprang aus dem Dunkel der geborstenen Mauern zu Timm hinaus und suchte am Himmel die Maschinen.
»Eine Staffel Me’s…«, flüsterte Timm erregt, »es geht los! Jetzt geht’s ihnen schlecht!«
Plötzlich waren die Maschinen dicht über ihnen. Sie flogen unter der Wolkendecke, und die beiden konnten sie nun erkennen. Es waren vier Maschinen, deren Silhouetten einander ähnelten. Aber die eine versuchte, sich von den anderen drei Maschinen zu lösen. Es gelang ihr nicht, denn die drei anderen jagten hinter ihr her, und aus ihren Tragflächen züngelten die Flämmchen der Bordwaffen.
»Da…«, sagte Timm. »Jetzt…«
Die gejagte Maschine zog steil aufwärts. Es war der letzte Versuch, zu entkommen. Einer der Verfolger ließ seine Maschine aufbäumen und zog mit hämmernden Maschinengewehren hinter der entschwindenden Maschine her in die Wolken. Von dort kam Sekunden später ein Aufflammen, und dann raste der Rumpf der ersten Maschine brennend in die Tiefe. Die Tragflächen flatterten wie schaukelnde, welke Blätter hinterher.
»Aus!« rief Timm. Aber in diesem Augenblick zog die Kette der drei Maschinen, die sich wieder vereinigt hatten, heran und preschte mit jaulenden Motoren dicht über die Mühle hinweg. Die Unterseite ihrer Tragflächen war hell gestrichen. Zado sah dort die großen, roten fünfzackigen Sterne. Er blickte zu Timm und sagte: »Aus ist der Traum von deinen Messerschmitts. Die eine Messerschmitt, die sich blicken ließ, liegt hinten im Wald.«
»Sie kommen trotzdem…«, antwortete Timm verbissen. Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Es klang wie das Knurren eines gereizten Tieres, als er heiser flüsterte: »Sie kommen einmal. Du wirst es sehen, daß sie kommen! Noch haben wir sie an der Kehle. Und bald werden wir ihnen die Kehle zuschnüren…«
Während er in das Flackern der Explosionen im Westen starrte, zog sich Zado das beschmutzte Schneehemd aus. Er ließ die Fetzen einfach liegen. Dann steckte er die Pistole in die Manteltasche und nahm die Maschinenpistole schußbereit in die Hand. Er war müde und hungrig, und das Feuer im Westen ließ seine Nerven beben.
»Los!« forderte er Timm barsch auf. »Laß jetzt das Phantasieren. Nimm dich zusammen. Wir müssen es während dieses Angriffs schaffen. Danach liegt die Front zwanzig Kilometer weiter westlich. Das schaffen wir nicht mehr.«
Er setzte sich in Bewegung. Er ging geduckt, nach allen Seiten spähend, langsam und katzengleich. Timm klemmte sich die Panzerfaust unter den gesunden Arm. Er murmelte leise vor sich hin: »Wir kriegen euch alle noch. Wir kriegen euch. Wir werden euch alle umlegen, es wird nicht mehr lange dauern…«
Er meinte die Flieger in den Maschinen mit den roten Sternen und die Artilleristen, die nach Westen schössen, er meinte die Fahrer, die mit ihren Lastwagen Munition zur Front transportierten, und die Schlittenlenker mit den langen Peitschen. Er schleppte die Panzerfaust, und die Maschinenpistole baumelte über seinem Rücken. Der Schmerz bohrte in dem zerschmetterten Schulterknochen. Aber Timm ließ die Panzerfaust nicht fallen. Er torkelte unsicher hinter Zado her, und der Schmerz stachelte ihn zu einer wahnwitzigen, sinnlosen Wut an, die seine Finger zucken ließ.
Sie erstiegen im Schutz einer Baumreihe einen sanften Hügel, von dem aus sie die Straße sehen konnten, die ins Dorf führte. Jenseits der Straße lag das Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte. Timm erinnerte sich in diesem Augenblick an sie. Er glaubte eine Bewegung im Hof zu erkennen, aber er war noch zu weit entfernt, um sicher sehen zu können. Der Wind hatte die Schleier der leichten Wolkendecke stellenweise zerflattern lassen, und ein mattes Mondlicht lag über dem Land. Sie konnten sich bis auf etwas mehr als hundert Meter an die Straße heranarbeiten, aber dann mußten sie zwischen verschneiten Büschen versteckt liegenbleiben und warten, denn auf der Straße bewegte sich eine Kolonne. Sie war lang und bestand aus Schlitten, auf denen Infanteristen hockten. Die Kolonne hielt an. Ihre Spitze hatte das Dorf erreicht und bog dort nach Westen ab, auf die Front zu, wo noch immer die Geschütze brüllten und die Schlaglichter der Explosionen flackerten.
»Wenn wir über die Straße sind, haben wir das Schlimmste hinter uns…«, flüsterte Zado. Er warf sich neben Timm. Der lag mit verzerrtem Gesicht an einen Stamm gelehnt und starrte hinüber auf die Kolonne, auf die Soldaten, die in den flachen Schlitten hockten, und auf das Gehöft, aus dessen Kamin eine dünne, kaum wahrnehmbare Rauchfahne stieg, die er jetzt plötzlich ganz deutlich sah.
Balaschow war gerade damit beschäftigt, sich zu rasieren, als das Artilleriefeuer einsetzte. Er hauste in einem Kellerverschlag, der durch eine Stallaterne erhellt war und vor dessen Eingang eine gescheckte Zeltplane hing. In einer Ecke des Verschlages befand sich eine rechteckig angeordnete Schütte Stroh. Daneben lagen das Gepäck Balaschows, seine Maschinenpistole und sein Mantel. Unter der Zeltplane, die den Eingang verdeckte, lief ein Telefonkabel hindurch, das in einem Feldtelefon in einer Kiste endete. Vor dieser Kiste saß auf einer anderen, kleineren Kiste Balaschow und schabte mit einem nicht sehr gepflegten Messer an seinem Kinn herum. Die große Kiste war sein Schreibtisch. Er hatte alte Zeitungen darübergelegt, und auf diese Weise war die Oberfläche einigermaßen glatt. Als das Gerumpel im Westen vernehmbar wurde, ließ Balaschow das Rasiermesser sinken und sah neugierig auf die Uhr am Handgelenk. Doch er besann sich und rasierte weiter. Als das Telefon klingelte, nahm er den Hörer mit der linken Hand und hielt ihn vorsichtig ans Ohr, um nicht den Seifenschaum abzuwischen, Er brummte etwas in die Muschel und nickte dazu. Dann sagte er mehrmals »Jawohl« und warf schließlich den Hörer auf die Gabel zurück. Er fuhr mit dem Messer noch schnell ein paarmal über das Gesicht, aber er kratzte nur den Schaum ab, der Bart blieb zum größten Teil stehen.
Balaschow sprang auf und beugte sich über eine Schüssel mit Wasser, die in einer Ecke auf einer anderen Kiste stand. Er wusch sich die Seifenreste vom Gesicht und tastete es unbefriedigt mit den Fingern ab. Während er sich abtrocknete, griff er bereits nach der Feldbluse. Er warf sie über und setzte den Stahlhelm auf. Zuletzt nahm er seine Maschinenpistole auf und überprüfte mit einem schnellen Blick das Magazin. Während er das tat, schob sich der Posten durch den verhängten Eingang und sagte: »Leutnant Warasin will zu Ihnen, Genosse Politleiter.«
»Soll ’reinkommen«, forderte Balaschow kurz. Er sah Warasin entgegen, und als der Leutnant vor ihm stand, musterte er ihn erstaunt.
»Sie haben Sorgen, ich sehe es Ihnen an«, sagte er kurz und deutete auf die Kiste vor der Lagerstatt, wo eben noch die Schüssel mit dem Wasser gestanden hatte. »Es ist Gefechtsalarm«, sagte er dabei, »setzen Sie lieber Ihren Stahlhelm auf.«
Warasin nahm den Helm vom Koppel und setzte ihn auf. Balaschow hielt ihm eine Zigarette hin, aber Warasin dankte. Er sagte: »Ich bin zu Ihnen gekommen, Genosse Balaschow, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, die mich betrifft und einen versprengten faschistischen Soldaten, der sich im Dorf aufhält.«
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