Harry Thürk
DIE STUNDE DER TOTEN AUGEN
Roman
Die Maschine flog sehr hoch. Sie befand sich weit über den Wolken, und das Geräusch ihrer Motoren war auf der Erde nicht mehr zu hören. Es war eine umgebaute Junkers, eingerichtet, acht Soldaten mit leichter Gefechtsausrüstung zu befördern. Sie war mit einer Schiebetür versehen; denn die acht Soldaten verließen die Maschine an Fallschirmen.
Draußen war Nacht. Die tiefe unendlichkeitsträchtige Schwärze des sterngesprenkelten Himmels. Die Wolken waberten wenige hundert Meter über der Erde, zäh, verfilzt. Zu einer stumpfen, grau schimmernden Masse. Es war eine Neumondnacht, und außer dem unsteten Geflacker der Sterne gab es kein Licht. Es gab nur die leere, angsteinflößende, finstere Stille, vom Motorenlärm der Maschine zerrissen, sonst nichts. Die Männer in der Maschine wußten das. Sie konnten nicht nach draußen blicken; denn die Maschine hatte keine Fenster. Aber sie wußten trotzdem, was sie erwartete, wenn sie sich aus der Schiebetür schwangen: die paar hundert Meter Fall durch den lautlosen, immer wieder unbekannten Raum, der zwischen der Erde und dem Gewebe der Nachtwolken lag. Und dann die Erde.
In der Maschine war es eng. Der Raum war nur von einer schwach bläulich schimmernden Sicherheitslampe erhellt. Er war angefüllt von den Ausdünstungen der Männer, von dem schweißigen Geruch ihrer Körper, dem ihres Lederzeuges und des Tabakrauches, den ihre Bekleidung angenommen hatte. Acht Männer saßen nebeneinander auf den schmalen Längsbänken, die Körper ein wenig vorgebeugt, gekrümmt in dem Gurtwerk der Fallschirme. Auf den Köpfen die topfartigen Helme, mit gescheckter Tarnleinwand überzogen, vollführten zuweilen nickende Bewegungen, denn die Männer hatten die Riemen am Kinn und hinter den Ohren noch nicht festgezogen. Zwischen den Knien lagen die Hände, regungslos, wie abgestorben, oder unruhig, ziellos bewegt. Sie trugen sehr kleine, kurze Maschinenpistolen quer über der Brust, über dem Tarnanzug, der ebenso gescheckt war wie der Überzug des Helms. Es waren leichte, Spielzeuggewehren ähnelnde kurzläufige Waffen, italienische Berettas, die gegen Schmutz und Nässe nicht halb so empfindlich waren wie die deutschen Maschinenpistolen. Keine andere Waffe war sonst an den Männern zu erkennen. Sie hatten die Handgranaten in den Hosentaschen verstaut und die Pistolen in den Innentaschen der Tarnanzüge. Andere Taschen bargen Patronen und Schokoladenriegel, Zündkabel und Verbandpäckchen, Drahtspulen und schnell wirkende Schmerztabletten.
Nur einer der Männer trug keine Maschinenpistole. Zwischen seinen Füßen stand der Behälter mit den Sprengladungen. Den hatte er zur Erde zu bringen. Es waren Sprengkörper, die man mit einem Vorschlaghammer hätte bearbeiten können, ohne Gefahr zu laufen, daß sie explodierten. Ein absolut sicheres Sprengmittel, das erst wenige Minuten vor der beabsichtigten Zündung durch die Kombination mit einer winzigen, länglichen Kapsel in hochexplosiven Zustand versetzt wurde. Der Mann wußte das. Einmal hatte er, als es keine andere Möglichkeit gab, eine Ladung dieses Sprengstoffes vermittels eines zwölfzölligen Nagels an einen Brückenpfosten geschlagen, bevor er die Sprengkapsel einsetzte. Er war Spezialist auf diesem Gebiet, und seine Kameraden wußten, daß eher der Himmel einstürzen würde, als daß eine Sprengladung versagte, die dieser kleine, schmalgliedrige Oberkellner aus dem Hotel Stadtkrone in Stuttgart anlegte.
Die Gesichter der Männer waren von einer stumpfen Teilnahmslosigkeit gezeichnet. Es waren die Gesichter von jungen, kräftigen Soldaten, für diese Nacht mit Ruß geschwärzt, damit es keine hellen Flecke gab, wenn sie irgendwo, ein paar Meter von einem feindlichen Posten entfernt, lagen und darauf lauerten, ihn zu überwältigen. Man konnte ihre Züge nicht erkennen. Sie sprachen nur wenig miteinander. Es gab nicht viel zu sprechen. Die Aufgaben waren verteilt. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Sie hatten eine Woche lang an einem Sandkasten das Gelände kennengelernt, in das sie abgesetzt wurden; sie hatten alle Einzelheiten des gefährlichen Unternehmens dutzendmal exerziert, sie kannten aus den Luftaufnahmen der Aufklärer jede Bodenerhebung, jeden Wasserlauf und jedes Versteck in dem Gelände, das sie anflogen. Sie waren gut genährt und ausgerüstet. Sie beherrschten alles, was nötig war, um ein Unternehmen wie dieses auszuführen. Sie beherrschten nicht nur ihre eigenen Waffen, sondern auch die, mit denen der Gegner ausgerüstet war. Sie waren im Kraftfahren und im Funken ausgebildet, in der Technik des Sprengens und im Minenlegen. Sie beherrschten ein halbes Dutzend verschiedener Methoden zu töten. Mit der Maschinenpistole und mit dem Kappmesser, das in der Wadentasche steckte, mit der Pistole und mit der Kante der flachen Hand.
Die Brücke, die sie anflogen, lag nur wenige Flugminuten hinter der erstarrten, in der schmutzigen, herbstlich feuchten Erde vergrabenen Front an der alten Grenze Ostpreußens und Polens. Man schrieb das Jahr 1944, und es waren noch zwei Monate Zeit bis Weihnachten. Die Armeen lagen sich in den Schützenlöchern gegenüber. Verhaltend, Atem schöpfend und zum nächsten Schlag ausholend, die Rote Armee; vom Rückzug müde geworden, angeschlagen, nervös die Verteidigung organisierend, auf den nächsten Anprall sich gefaßt machend, die deutsche.
Die Brücke war eine massive, alte Konstruktion aus Steinquadern und Beton. Auf dem Schienenweg über ihren Pfeilern rollten die Transporte bis nahe an die Front heran. Schützendivisionen und Panzerbataillone. Plateauwagen mit Fahrzeugen und Salvengeschützen, Material, Munition und Menschen. Die Züge rollten Tag und Nacht, denn es gab kaum noch deutsche Flugzeuge, die sie hätten angreifen können. Sie rollten bis zu einer schnell eingerichteten Entladerampe nahe der Front und verschwanden von hier in den tiefen Wäldern. Der Sturm kündigte sich an, und dieses Flugzeug mit den acht Männern war einer der vielen Versuche, den Beginn des Sturmes hinauszuzögern. Es war wie eine Rakete, die man in eine Unwetterwolke schießt in der Hoffnung, das niederprasselnde Unwetter aufzuhalten.
Die Maschine war weit hinter der deutschen Front auf einem Feldflughafen aufgestiegen. Der Pilot kannte diese Art von Flügen. Er flog sehr hoch und überquerte die Front. Dann flog er eine weite Strecke über das russische Hinterland, bevor er die Maschine wieder auf Gegenkurs brachte. Die Peilanlage gab an, daß er in einigen Minuten über der Stelle sein würde, an der er die Männer abzusetzen hatte. Er winkte dem Funker und sagte in das Kehlkopfmikrophon: »Fertigmachen!« Dann drosselte er die Motoren, bis sie nur noch schwach blubbernd liefen, und ließ die Maschine langsam abwärts gleiten.
Der Funker kroch durch das Schott in die Kabine. Er traf die Männer dabei an, wie sie die Karabinerhaken ihrer Reißleinen in das Drahtseil hakten, das durch die Kabine lief. Sie standen in einer Reihe hinter der noch geschlossenen Schiebetür. Der Unteroffizier überprüfte, ob alle Haken am Seil befestigt waren. Dann trat er als erster an die Schiebetür.
»Morgen nacht, zwei Uhr!« sagte der Funker zu dem Unteroffizier. »Punkt zwei Uhr zündet ihr die Signallichter an. Ihr hört uns ja. Außerdem wird klares Wetter sein. Seht euch den Platz an, damit keine Klamotten herumliegen. Und wenn ihr Verwundete habt, macht Bahren und schnallt sie darauf fest. Der Einstieg liegt ziemlich hoch.«
Der Unteroffizier nickte. Sein geschwärztes Gesicht blieb unbewegt. Er war ein großer, in der Tarnkleidung etwas plump wirkender Mann.
In diesem Augenblick kam aus der Hupe an der Kabinendecke der erste, lang gezogene Summton. Der Funker riß die Schiebetür auf. Der Luftzug zerrte an der Kleidung der Männer. Er fuhr in die Kabine und erfüllte sie mit dem frischen, kalten Atem der Nacht. Der letzte in der Reihe sagte zu seinem Vordermann: »Verflucht kalt sind die Nächte schon…«
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