Er öffnete den von seinem Vater zuerst. Gnaeus Marcellus hatte nur wenige Zeilen geschrieben. Er hoffte, dass Lucius bei guter Gesundheit sei und die Strapazen seines ersten Feldzuges gut überstanden habe. „Ich habe schon gehört, dass du die Ausbildung gemeistert hast und ich habe sogar das eine oder andere von deinen Erlebnissen gehört.“ Du alter Schweinhund! Lucius wusste nicht, ob er belustigt oder verärgert sein sollte. Da hatte der Vater doch bestimmt einen seiner alten Kameraden auf ihn angesetzt! „Von dir selbst ist ja kein Lebenszeichen gekommen!“ Lucius zuckte schuldbewusst zusammen, er war so beschäftigt gewesen und so in seine eigenen Probleme vertieft, dass er an eine Nachricht an seine Familie nicht gedacht hatte. Er las weiter: „Was ich über dein Verhalten und deine Leistungen während des Feldzuges gehört habe, lässt darauf schließen, dass du unserer Familie keine Schande gemacht hast! Ich wünsche dir auch weiterhin Glück, Erfolg und Gesundheit. Vergiss nicht, die Götter zu ehren. Vale, Gnaeus Justinius Marcellus“ .
Lucius brauchte einen Moment, um das Gelesene zu verarbeiten. „Was ich gehört habe.“ Diese Wendung benutzt Vater gleich mehrmals, dachte Lucius, und überflog noch einmal das Schreiben. Es war zwecklos, darüber zu sinnieren, wer es sein könnte. Jeder Veteran konnte seinen Vater kennen. Er las den Schluss noch einmal. Sollte das etwa ein Lob sein? War sein Vater etwa stolz auf ihn? Lucius reckte sich ein wenig und legte den Brief auf den Tisch.
Als Nächstes öffnete er Gaius’ Brief. Auch dieser war nur kurz. Seiner Familie ging es gut, der kleine Gnaeus war wohlauf. Denn während sich Lucius in der Weltgeschichte herumtrieb, hatte der kleine Gnaeus das Licht der Welt erblickt. Der große Gnaeus war mächtig stolz auf seinen ersten Enkel, auch wenn er das nicht zugab. Das Haus in Arausio sei angenehm ruhig, seit Lucius nicht mehr das Mobiliar zertrümmere. Aber er sei natürlich jederzeit willkommen. Glück, Gesundheit, reiche Beute und immer einen Schild zwischen sich und den Barbaren wünschte sein Bruder ihm. Sextus lasse schön grüßen.
Marcus begrüßte ihn ebenfalls freudig als Onkel. Er weilte mit seiner Frau noch immer in Lugdunum, da ihr die Reise zurück nach Rom zurzeit noch nicht zuzumuten war. Jetzt waren sie stolze Eltern einer kleinen Cornelia. Sie hatte als Säugling schon einen stolzen Gesichtsausdruck. Sie sei eine kleine Fürstin, eine Prinzessin. Wenn er es einrichten könne, solle er sie in Lugdunum besuchen, vielleicht zu den Saturnalien.
Was in einem Jahr doch alles passieren konnte! Seine beiden Brüder waren Väter geworden und er hatte nicht einmal gewusst, dass ihre Frauen schwanger gewesen waren. Oder Moment! Anfang des Jahres vor dem Abmarsch hatte ihn ein Brief von Gaius erreicht, der so etwas erwähnt hatte. Bis zu den Saturnalien dauerte es zwar noch eine Weile, aber das wäre in der Tat eine gute Gelegenheit, seine Familie zu besuchen. Er hatte sich über Urlaub noch gar keine Gedanken gemacht.
Seine Freunde versorgten ihn mit Stadtklatsch. Die Thermen seien komplett fertiggestellt. Thermen, dachte Lucius bei sich, seit über einem Jahr hatte er keine mehr aufgesucht. Die Stadt wuchs weiter. Furius, der alte Weinpanscher, war endlich verurteilt und weggejagt worden. Das Theater war aufgebaut worden und Titus war in Lugdunum gewesen und hatte Gladiatorenkämpfe besucht, die Augustus zu Ehren seines Vaters, des göttlichen Julius, gegeben hatte.
Lucius kramte einige Papyrosrollen aus seiner Truhe, suchte sein Schreibset und begann, die Briefe zu beantworten. Die Einzelheiten des Feldzuges erwähnte er nur kurz. Den Dreck, die Schmerzen und die Angst konnte man nicht schildern. Und wie sollte er jemandem, der bequem im Atrium in Arausio bei einem Becher Wein den Brief las, das Entsetzen erklären, das ihn befallen hatte angesichts der toten Säuglinge? Und sich dann als Held darstellen? Folgt eurer Ehre, Kameraden? Nein, das sollten lieber andere erzählen. Seinem Vater brauchte er keine Einzelheiten zu schreiben, der kannte das alles aus eigener Erfahrung. Und die anderen würden es ohnehin nicht verstehen.
Nachdem er die ersten Briefe beendet hatte, legte er die Feder beiseite.
Es wurde Zeit für eine Ablenkung und ein bisschen Spaß. Er griff nach seinem Mantel und verließ die Baracke. Er ging mit einem kurzen Gruß an die Wachen durch das Lagertor hinaus. Im Westen war der Himmel von der untergehenden Sonne glutrot erleuchtet. Er schlenderte durch die belebten Straßen der Stadt und erreichte das gesuchte Haus. Auf sein Klopfen wurde geöffnet und er betrat den Raum. Es war ein einfacher, schlecht möblierter Raum. Die Frau sah ihn wortlos an. Er legte drei Asse auf den Tisch und sah sie fragend an. Sie nickte, strich das Geld ein. Er folgte ihr in den Nebenraum.
Der Konsul Lucius Calpurnius Piso sah zu Tiberius und Drusus hinüber. Letzterer versuchte soeben, ein Gähnen zu unterdrücken.
„Wir haben noch einen Punkt zu besprechen, bevor wir uns dem Abendessen widmen können.“
Er machte eine Pause, während Drusus sich bemühte, einen klaren Kopf zu bekommen.
„Wir sollen eine colonia anlegen. Welcher Ort eignet sich am besten zur Ansiedlung von Veteranen und als Zentrum der römischen Kultur?“
Drusus’ Antwort war durch ein erneutes Gähnen nur schwer zu verstehen.
„Bratanium liegt zu weit im Osten, Brigantium liegt verkehrstechnisch günstig!“
Tiberius setzte die Aufzählung fort: „Das Lager der Gemina, das Castra Vindelicum, ist eigentlich gut geeignet. Aber obwohl es eine verkehrsgünstige Lage an zwei Flüssen hat, ist es zu abgelegen. Es gibt dort keine weitere Keltensiedlung, und bis aus dem Lager ein Zentrum römischer Kultur werden könnte, würden noch einige Jahre vergehen. Castra Raurica ist zu klein.“
Piso nickte zustimmend: „Ich habe mir so etwas gedacht. Wir brauchen aber mehr Stützpunkte und Zentren der römischen Kultur im Norden. Dies ist der Wunsch von Augustus. Wir werden entlang des Rhenus weitere Legionen stationieren und wo es geht, coloniae anlegen. Wir werden die erste colonia hier in der Nähe gründen. Sie wird Augusta Raurica heißen. Diese Gegend hier ist sehr gut geeignet. So sichern wir zunächst das Gebiet entlang des Rhenus.“
Drusus sah erstaunt auf: „Hier in Basilia?“
Piso verneinte: „Ein Stück weiter südlich. Dort hatte Lucius Munatius Plancus im Jahr von Caesars Tod bereits eine colonia gegründet. Sie ist aber nie besiedelt worden, das werden wir jetzt nachholen.“
„Und wer soll dort angesiedelt werden?“, hakte Drusus nach.
„Derzeit stehen vier Legionen in Gallien. Und vier hier südlich des Danuvius. In den nächsten Jahren wird es eine Reihe von Veteranenentlassungen geben. Die Entlassenen werden wir hier und bei den Treverern ansiedeln. Castra Treverorum ist nun schon einige Jahre ein Legionsstützpunkt und soll ebenfalls zur colonia erklärt werden“, führte Piso aus.
„Ich werde so bald wie möglich einen Trupp losschicken. Sie sollen den locus gromae festlegen und die Via Principalis und die Via Praetoria abstecken“, sagte Tiberius.
Piso nickte zustimmend. „Wir werden die Gründung der colonia feierlich begehen und das Armilustrium, die Reinigung der Waffen, dort abhalten. Die eigentlichen Bauarbeiten beginnen dann im Frühjahr.“
Drusus erhob sich. „So soll es geschehen.“
Lucius stand breitbeinig da und hielt die Vitis hinter dem Rücken, während er die Arbeiten beaufsichtigte. Obwohl er nur mit einer Tunica bekleidet war, spürte er, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief. Seine Centurie ging den Ingenieuren und Feldmessern zur Hand, die die neue colonia abstecken und ihren Bau vorbereiten sollten. Die Männer arbeiteten verbissen und vermieden seinen finsteren Blick.
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