„Springt, Kameraden, wenn ihr das Signum nicht diesen kinderfressenden Barbaren ausliefern wollt!“, brüllte er und rannte mit der Standarte in der Linken und dem Schwert in der Rechten den Hang hinauf. Zwei Mal noch wich er den grauenhaften Wurfgeschossen der Germanen aus. Er verschloss seine Ohren vor dem Jammern der Kinder, dem Kreischen der Frauen und dem Schreien der Männer. Etwas Scharfes traf ihn an der Schulter, aber er spürte nichts. Seine maßlose Wut trieb ihn vorwärts. Sein Blick war auf eine rothaarige Frau gerichtet, die auf der Barrikade stand, ihr Kind an den Beinen gepackt hatte und ihn so erwartete. Ihr Mund schrie etwas, aber er sah nur ihre flackernden Augen, in denen der Wahnsinn loderte.
Als er die Barrikade erreichte, hob sie das Kind hoch. Blitzschnell stieß er ihr die Standarte ins Gesicht. Sie fiel rücklings vom Karren. Plötzlich kehrte seine Wahrnehmung zurück. Das Getöse und Geschrei um ihn herum hatte nicht nachgelassen. Er sprang auf den Karren und von dort in das Lager der Teutonen. Sofort sah er sich von mehreren Männern angegriffen. Einen Stoß mit dem Speer blockte er mit der Standarte ab. Ein Angreifer schlug mit der Axt nach ihm, er wich aus und stieß ihn mit dem Schwert nieder, als er einen heftigen Schlag in die Seite bekam, der ihn fast umwarf. Er ließ die Standarte herumwirbeln und streckte so einen Angreifer nieder. Etwas schrammte seinen Arm und er ließ mit einem Schmerzensschrei sein Schwert fallen. Er fasste die Standarte mit beiden Händen und sah zwei Germanen mit stoßbereitem Speer näher kommen. Der eine riss den Mund auf, als wollte er schreien, aber es kam nur Blut, der Kopf des anderen flog plötzlich von einem Schwerthieb abgeschlagen durch die Luft. Eine Welle von Legionären stürmte über die Barrikade ins Lager.
Lucius stützte sich auf die Standarte, ihm war auf einmal schwindelig. Sein Arm, seine Schulter, sein Rücken und seine Seite, alles schmerzte. Plötzlich stand Mallius neben ihm, reichte ihm seinen Schild und riss die Standarte wieder an sich. Er warf ihm noch einen bewundernden Blick zu, ehe er den Männern folgte. Lucius sah den Männern nach, dann drehte er sich um und erbrach sich. Danach verlor er das Bewusstsein.
Der Arzt, der ihn versorgte, wollte etwas sagen, aber seine Worte waren unter Lucius’ finsterem Gesichtsausdruck zu einem unverständlichen Murmeln geworden. Lucius’ Blick wanderte über das Lager oder vielmehr über das, was davon noch übrig war. Nachdem die Römer wieder Herr über das grauenvolle Entsetzen geworden waren, das sie gelähmt hatte, hatten sich die Legionäre voller Hass und Zorn in einen Blutrausch gesteigert und die wenigen Teutonen, die noch lebten, brutal niedergemetzelt. Viele waren bereits tot gewesen. Die teutonischen Frauen hatten zuvor nicht nur ihre Kinder getötet, sondern auch die fliehenden Männer erschlagen, bevor sie sich selbst umbrachten, um den Römern nicht in die Hände zu fallen.
Vitellius blieb stehen und sah auf Lucius herunter.
„Schwere Verletzungen?“
Der Arzt schüttelte den Kopf: „Ein Pfeil hat die Schulter getroffen, das ist die schwerste Wunde. Eine tiefe Schnittwunde am Arm, tut weh, ist aber kein Problem; eine Quetschung an der Seite, wo ihn ein Schwert getroffen hat. Es hat das Kettenhemd nicht durchschlagen, ist nicht schlimm, aber auch schmerzhaft.“
„Gut! Sieh zu, dass du ihn auf die Beine bringst!“
Vitellius ging zu seinen Männern hinüber. Lucius nahm seine Umgebung wie aus weiter Ferne wahr. Er erinnerte sich nun wieder daran: Er hatte gelesen, dass die Frauen der Teutonen ihre Kinder und Säuglinge bei Aquae Sextiae als Wurfgeschosse benutzt oder sie getötet hatten, damit sie nicht den Römern in die Hände fielen. Er hatte es damals nicht geglaubt. Natürlich waren auch den Römern Hingabe und Opferbereitschaft bekannt. In der römischen Geschichte gab es genug Beispiele für Männer und Frauen, die ihre Gesundheit und ihr Leben für Rom eingesetzt hatten.
Horatius, der mit zwei Getreuen die Brücke gegen das etruskische Heer gehalten hatte; Mucius Scaevola, der seine Hand verbrannt hatte, um zu beweisen, dass er die Folter nicht fürchtete; Cloelia, die mit ihren Freundinnen aus etruskischer Geiselhaft geflohen war. Und nicht zu vergessen Regulus, der Konsul, den die Punier mit Friedensangeboten nach Rom geschickt hatten. Dort hatte er zur Fortführung des Krieges geraten und war seinem Wort getreu zurück in die punische Gefangenschaft gegangen und dort ermordet worden.
Aber niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, unschuldige Kinder als Waffen zu gebrauchen! Sich selbst zu opfern, ja, aber doch keine Kinder! Welch ein Wahnsinn war für solche Taten nötig! Das war so hassenswert wie die Punier, die ihre Kinder dem Baal geopfert hatten. Und genützt hatte es auch nichts, da Jupiter sich am Ende doch als stärker erwiesen hatte.
Die Legionäre sammelten die Waffen ein, versorgten ihre Verwundeten und töteten die verwundeten Feinde.
Plötzlich unterbrachen sie ihre Tätigkeit und sahen zu ihrem Feldherrn, der mit seinem Stab über das Schlachtfeld ritt. Lucius hörte, wie das Rufen begann, konnte es aber zunächst nicht verstehen. Es wurde lauter und lauter. Rhythmisch riefen die Männer immer wieder und wieder.
Jetzt verstand es auch Lucius: „Imperator, Imperator!“
Drusus durfte also bei seiner Rückkehr nach Rom einen Triumph feiern, die höchste Ehrung für einen Feldherrn, die Ausrufung zum Imperator. Varus ritt auf ihn zu und beglückwünschte ihn zu dem Sieg.
„Es war ein schwerer Kampf, aber dein Erscheinen auf dem rechten Flügel hat die Männer ermutigt, wieder vorzurücken!“
Drusus sah erschöpft aus, sein übermütiges Lächeln war verschwunden. „Härter als ich gedacht hatte! Leider ist es uns nur gelungen, diese eine Abteilung der Barbaren zu vernichten. Andere sind in die Wälder entkommen! Morgen werden wir anfangen sie aufzuspüren!“
Varus sah ihn entsetzt an: „Drusus, bist du von Sinnen? Du kannst den Germanen nicht weiter in die Wälder folgen!“
Auf Drusus’ Gesicht erschien ein verstockter Ausdruck. „Warum nicht? Wir müssen die einmal begonnene Arbeit beenden!“ Drusus wendete sein Pferd und ritt fort.
Beim Abendessen wurde er von den Tribunen beglückwünscht.
„Glückwunsch, Nero Claudius Drusus. Du wirst den ersten Triumph seit Marcus Agrippa feiern. Wie lange ist das her? Zehn Jahre, fünfzehn Jahre?“, sagte Scapula.
Drusus schüttelte den Kopf. „Es wird keinen Triumph geben. Wir leben leider nicht mehr wie in den glorreichen Zeiten der Republik, wo Feldherren von ihren Soldaten zum Imperator ausgerufen wurden. Dieser Feldzug findet unter den Zeichen und Auspizien meines Stiefvaters statt. Also kann nur er triumphieren.“
Die anderen sahen ihn entsetzt an. „Was sagst du da? Aber alle Feldzüge gegen die Cantabrer, die Raeter oder jetzt gegen die Germanen finden unter diesen Bedingungen statt. Heißt das, es wird kein Feldherr mehr einen Triumph feiern können?“
Drusus schüttelte bedauernd den Kopf. „Ja, so ist es. Alle Legionen haben ihren Eid auf meinen Vater abgelegt, und so führen die Feldherren die Feldzüge als seine Legaten, und Legaten haben noch niemals einen Triumph bekommen.“ Die anderen sahen enttäuscht aus. „Kopf hoch! Eine Ovation wird aber für euch noch drin sein.“
Das entlockte allen nur ein müdes Lächeln. Eine Ovation, ein kleiner Triumph, das war nicht dasselbe.
„Außerdem hat dieser Sieg nicht die Bedingungen für einen Triumph erfüllt!“, fuhr Drusus fort. „Der Feind war uns nicht überlegen und wir haben ihn keinesfalls vernichtend geschlagen, sondern nur eine Gruppe der Teutonen vernichtet! Aber wir werden die anderen finden und sie zerschmettern.“
Entsetztes Schweigen folgte diesen Worten. Die Tribune sahen einander verständnislos an.
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