Lucius hörte überraschte Rufe aus den Reihen der Männer. Aber die Optiones mahnten sofort zur Ruhe. Die folgenden Bewegungen liefen so ab, wie Lucius sie vom Exerzierplatz her kannte. Auf ein Hornsignal hin begannen die Legionäre zu laufen.
Sie stürmten dem Feind entgegen.
Ein weiteres Hornsignal, die Römer stoppten ab.
Hilarius stand ruhig da und gab seine Befehle: „ Tollite pila! Fertig machen zum Werfen! Mittite! “
Der Feuerbefehl kam, als die Germanen nur noch fünfzehn Doppelschritte entfernt waren. Die zehn Legionäre der ersten Reihe nahmen Anlauf und schleuderten ihre Pila, sprangen sofort zurück und bekamen die nächsten gereicht, die sie ebenfalls schleuderten.
Der größte Teil der Würfe ging ins Leere, da die Germanen nach den ersten vier Salven überstürzt kehrtmachten und die Anhöhe wieder hinaufliefen.
„ In aciem venite, in duos ordines! In Linie angetreten, in zwei Gliedern!“, befahl Lucius, worauf die Linien sich noch enger schlossen.
„ Gladius stringite! Zieht blank!“
„ Cursim! Im Laufschritt!“
Als sie nun die Anhöhe hinaufstürmten, setzte von oben ein Speer- und Steinhagel ein. Einige Legionäre wurden vom wuchtigen Aufschlag eines Felsbrockens auf ihrem Schild umgerissen. Es gab auch schwerere Verluste. Hilarius wurde von einem Stein am Helm getroffen und bewusstlos von seinen Männern aus der Kampflinie gezerrt. Sein Optio eilte nach vorn, um das Kommando zu übernehmen.
Lucius sah die Frauen der Gegner auf den Barrikaden stehen und ihre kleinen Kinder in die Höhe halten, um so die Männer zu beschwören, erneut anzugreifen. Daraufhin stürmten die Germanen wieder die Anhöhe hinab. Sie warfen sich auf die Legionäre und versuchten sie zurückzudrängen. Diese hielten jedoch ihre Stellung. Den durch Kettenhemden und mannshohe Schilde geschützten Legionäre hatten die mit bloßer Brust kämpfenden Barbaren nur ihre Tapferkeit und ihre Wildheit entgegenzusetzen.
Die erste Centurie wankte und Lucius wusste, dass es an der Zeit war einzugreifen. Er schluckte schwer.
„Vorrücken!“, befahl er.
Sie rückten bis auf Pilumweite vor und schleuderten ihre Pila über die Reihen ihrer Kameraden. Der Widerstand der Germanen brach zusammen, sie wichen zurück. Die Anfeuerungsschreie der Frauen wurden zu lautem Wehklagen.
Nicht überall kamen die Legionäre gleichermaßen gut voran. Eine Reiterattacke hatte den rechten Flügel in Unordnung gebracht und den Vormarsch gestoppt, da Drusus kein Risiko eingehen wollte. In der Mitte wogte der Kampf unentschieden hin und her, nur der linke Flügel stand unmittelbar vor dem Sturm auf die Barrikade.
Lucius’ Centurie verstärkte nun die Reihen der ersten Centurie. Die Männer stachen auf die Germanen ein und drängten sie zur Barrikade zurück. Lucius nahm die wilden Gesichter, das Geschrei, die Toten wie durch einen Nebel wahr. Er schrie mechanisch seine Befehle hinaus, wie man es ihm eingebläut hatte. Genauso mechanisch führten seine Legionäre die Befehle aus. Lucius hatte damals in Massilia ein mechanisches Schöpfwerk gesehen. Durch Windkraft angetrieben, hatte es unermüdlich Eimer um Eimer in die Höhe befördert. Als er jetzt die Legionäre kämpfen sah, wurde er daran erinnert. Mit tödlicher Präzision wurden die Germanen zurückgedrängt und niedergestochen. Jeden Moment würden ihre Reihen aufreißen und das große Schlachten würde beginnen. Die meisten Toten gab es nicht im Kampf, sondern danach. In dem Moment, wenn die Schlachtreihe eines Heers sich auflöste, begann das Gemetzel unter den Fliehenden.
Da, jetzt war es so weit! Die Germanen konnten dem Druck der Legionäre nicht mehr standhalten, die Reihen brachen auf und die Feinde flohen. Ein Teil floh zurück zur Barrikade, die anderen versuchten, von der Anhöhe herunter zu flüchten. Die Legionäre stürmten vorwärts auf die Barrikade zu, über die sich ein Teil der Männer gerettet hatte.
Die Frauen schleuderten den Römern nun von der Barrikade herab Felsbrocken entgegen.
Der Optio der ersten Centurie stürmte an der Spitze seiner Männer vorwärts, als er getroffen wurde. Er hatte seinen Schild gerade noch hochgerissen, aber die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn nach hinten. Wie Hilarius blieb auch er besinnungslos liegen. Die Männer hielten entsetzt inne. Sie starrten voller Grauen auf ihren gefallenen Anführer und auf das, was ihn getroffen hatte.
Drusus war nervös. Unablässig öffnete und schloss er seine Hand. Dies war der Höhepunkt des Feldzuges. Alle Kämpfe in den Bergen und auch die Schlacht am Fuße der Alpen waren wie eine große Übung gewesen. Eine Übung mit scharfen Waffen, aber nichts weiter als eine Übung. Die Raeter und Vindelicer hatten keine Chance gehabt gegen die entfesselte römische Kriegsmaschine. Ein Kampf gegen die Germanen war etwas völlig anderes. Die Schlacht stand nicht gut. Am Vormittag hatten sie die Germanen zurückgeschlagen, einigen Einheiten war es sogar gelungen, die Germanen zu umgehen und ihnen den Rückweg abzuschneiden, aber jetzt war der römische Angriff festgefahren. Das Zentrum kam nicht voran, der rechte Flügel hatte sich zurückziehen müssen, und nun schienen auch auf dem linken Flügel die Legionäre zurückzuweichen. Er musste etwas unternehmen.
„Prätorianer, mir nach!“, rief Drusus und führte seine Wache auf den rechten Flügel.
Lucius erwartete, dass der Signifer, der nun der Ranghöchste in der ersten Centurie war, das Kommando übernehmen würde, aber auch der stand wie versteinert da und starrte auf seinen Optio, der am Boden lag. Es sah aus, als wäre der Signifer vor Angst wie gelähmt. Welch eine absurde Idee! Zum Signifer wurden nur die Tapfersten der Tapferen ernannt.
Lucius sah sich um, auch der Vorstoß des zweiten Manipels war ins Stocken geraten. Die Germanen fassten Mut und begannen die Römer erneut mit Steinen und Speeren zu bewerfen.
Die Männer wichen zurück. Wenn jetzt nichts geschah, würden sie die Flucht ergreifen. Lucius schrie die Männer seines Manipels an.
„Vorwärts, Hastaten!“, brüllte er und lief nach vorn. Hier riss er einen Legionär mit, dort schlug er einen anderen mit der Breitseite seines Schwertes in den Rücken, um ihn anzutreiben. Er riss Ripanus, der dem Feind bereits den Rücken zugekehrt hatte, herum und schrie ihn an: „Du trägst die torquis der Tapferkeit, also vorwärts!“
Langsam lösten sich die Männer aus ihrer Erstarrung und rückten wieder vor, aber allen war ein namenloses Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Lucius drängte sich näher an den Signifer heran.
„Vorwärts, da ist der Feind! Drauf!“, rief er und winkte den hinter ihm stehenden Männern zu, ihm zu folgen.
Plötzlich hörte er einen klagenden Laut, der aus der Luft über ihm zu kommen schien. Er sah nach oben. Etwas flog auf ihn zu. Blitzschnell warf er sich zu Seite und rief dem hinter ihm stehenden Legionär eine Warnung zu. Aber der reagierte nicht, sondern starrte mit Bestürzung im Gesicht dem Geschoss entgegen. Er wurde am Kopf getroffen und fiel zu Boden. Lucius richtete sich wieder auf, um nach ihm zu sehen. Sein Blick wanderte von dem Legionär, dessen unnatürlich verdrehter Kopf auf einen gebrochenen Hals hinwies, zu dem Wurfgeschoss. Da lag mit zerschmettertem Kopf ein wenige Monate alter Säugling. Grauen packte Lucius. Er riss den Blick von dem toten Säugling los und sah voller Abscheu zur Barrikade hinauf: Die Frauen standen hoch oben und hielten ihre Kinder und Säuglinge erhoben. Hass stieg in Lucius auf, Hass und Wut. Er schrie auf, brüllte die Legionäre an, die immer noch vor Angst gelähmt schienen. Er rannte zu Mallius, der wie erstarrt voller Entsetzen auf die toten Säuglinge vor seinen Füßen blickte.
Lucius warf seinen Schild weg und entriss dem Signifer die Standarte.
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