Diese Siedlung war nicht nur verlassen, sondern auch geplündert worden. Überall zeigten sich Brandspuren und Zeichen mutwilliger Zerstörung. Verlassen war die Siedlung allerdings offenbar schon länger, da sich niemand die Mühe gemacht hatte, die älteren Schäden zu reparieren. Trotzdem war erkennbar, dass hier noch vor kurzer Zeit Menschen gelagert hatten. Es sah so aus, als ob diese Siedlung so etwas wie ein Ausgangs- und Sammelpunkt für die einfallenden Germanen war. Lucius fand diesen Gedanken nicht sehr ermutigend.
Nachdem die Durchsuchung des Ortes und der Umgebung abgeschlossen war und die Kundschafter keine frischen Spuren der Germanen gefunden hatten, ließ Ahenobarbus die Wachen einziehen und befahl den Abmarsch. Er wollte so schnell wie möglich zur Legion zurück.
Lautes Geschrei zu seiner Rechten schreckte Lucius plötzlich auf. Mehrere Gruppen der voranreitenden gallischen Reiter kamen zurück über die Hügelkuppe geritten und galoppierten auf sie zu. Lucius fand, dass sie in ihren bunten Gewändern einen prächtigen Anblick boten, und sah versonnen von Gruppe zu Gruppe. Ihre bunten Umhänge bilden einen schönen Kontrast zu den grauen Regenwolken, dachte er. Doch ihm stockte der Atem, als er erkannte, dass ihnen weitere Gruppen von Reitern folgten, deren Kleidung keineswegs bunt war. Dies waren keine Gallier, dies waren Germanen.
„Blas Alarm!“, brüllte Lucius dem neben ihm gehenden Cornicen zu. Der sah ihn verständnislos an. „Los, blas Alarm!“
Laut rufend rannte Lucius durch die Reihen seiner Männer. Diese starrten zuerst entgeistert, reagierten dann aber schnell. Unterdessen donnerte der Alarmruf aus dem Horn über das Lager. Die Lage war ernst. Eine Turma Gallier befand sich in wilder Flucht. Sie drohten von einem drei- bis viermal so starken Gegner eingekreist zu werden.
„Rechts schwenkt!“, brüllte Lucius und seine Centurie schwenkte dem Feind entgegen.
Auch Hilarius hatte sein Centurie schwenken lassen und war bereit, sich den Germanen zu stellen. Ahenobarbus zügelte sein Pferd neben den Centurionen und erteilte eilig seine Befehle:
„Centurio Marcellus, rücke mit deinen Männern vor und halte diese Reiter auf! Centurio Hilarius, deine Männer bilden die Reserve! Die Allobroger ziehen sich auf den Kamm zurück und sichern den Rückzug!“
Es blieb keine Zeit zu fragen, ob es klug war, die Einheit zu trennen.
Lucius grüßte und wollte loslaufen, als Hilarius ihn an der Schulter festhielt.
„Bekämpfe die Panik! Geschrei tut niemanden weh!“
Lucius nickte. Hilarius hielt ihn immer noch fest: „Marcellus, achte auf deine rechte Seite!“
Damit ließ er ihn los und ging weg.
Lucius war so überrascht, den traditionellen Gruß von Hilarius zu hören, dass er vergaß, ihm zu antworten. Er eilte zu seinen Männern. Hastig gab er seine Anweisungen, und seine Centurie rückte vor. Als die Germanen sahen, dass sich die Legionäre in ihre Richtung bewegten, schwenkten sie herum und galoppierten direkt auf sie zu. Sie teilten sich in zwei Gruppen und griffen unter lautem Geschrei von zwei Seiten an. Lucius gingen diese Schreie durch Mark und Bein. Auch seine Männer blickten den Germanen ängstlich entgegen.
Lucius musste seine Einheit irgendwie zusammenhalten, sonst würden sie schwere Verluste hinnehmen müssen.
„Testudo bilden, los, testudo bilden!“, befahl er.
Das Hornsignal erklang und Lucius’ Männer rissen ihre Schilde über den Kopf. Keinen Augenblick zu früh, schon ritten die Germanen links und rechts an der Centurie vorbei und deckten sie mit einem Speerhagel ein. Allerdings vergeblich, denn die testudo bildete einen sicheren Schutz für die Legionäre.
Lucius hörte das Prasseln auf dem Schilddach. Die Germanen ritten hinter ihnen entlang und ließen wieder einen Speerhagel niedergehen. Erneut gab es keine Verluste.
Dafür gerieten nun die Germanen unter Beschuss. Hilarius hatte seine Centurie vorrücken lassen und bedrängte die germanischen Reiter. Die Lage veränderte sich mit einem Male: Auch die gallischen Reiter hatten ihre Richtung geändert und bedrohten die Germanen in ihrer Flanke. Dadurch drohten diese eingekreist zu werden. Sie reagierten sofort und wendeten ihre kleinen, struppigen Pferde. Nach einem letzten Speerhagel auf Lucius’ Männer jagten sie den Hang wieder hinauf. Oben vereinigten sie sich mit den restlichen Germanenkriegern, die von der Verfolgung der gallischen Reiter zurückkehrten. Wieder stießen sie ihr lautes und wildes Kriegsgeschrei aus, dazu schwenkten sie ihre Speere und trommelten damit auf ihre Schilde.
Das alles wirkte so unwirklich und bedrohlich, dass Lucius froh war, Hilarius’ Männer wieder an seiner Seite zu haben. Ahenobarbus erwartete sie mit den Allobrogern auf dem Hügelkamm.
„Gut gemacht, Centurio Marcellus. Du hast schnell und mutig reagiert. Wir sollten uns aber schleunigst zur Legion zurückziehen. Ich habe nicht die Absicht, in der Dunkelheit ohne Lager hier draußen zu übernachten. Marcellus, du übernimmst mit deinen Männern die Nachhut! Ambiorix und drei Contubernia der Allobroger und Flaccus mit zwei Turmae Reiter unterstützen ihn! Die restlichen Allobroger bilden die Spitze! Die anderen Reiter erkunden die Umgebung! Hilarius, du übernimmst die Mitte! Und jetzt los!“
Lucius sah zum gegenüberliegenden Hügel und musste feststellen, dass die Germanen sich nicht zurückgezogen hatten, sondern immer noch in ihrer Position ausharrten. Ja, ihre Anzahl hatte sich sogar noch vergrößert: Lucius schätzte, dass sich mittlerweile etwa zwei Centurienstärken der germanischen Krieger auf dem Hügel befanden, vielleicht auch zweieinhalb, das war durch den Nieselregen schwer abzuschätzen.
Ambiorix kam auf Lucius zu. „Centurio, sie machen sich zu einem neuen Angriff bereit!“
Lucius starrte zu dem Hügel, bis ihm die Augen tränten, aber er konnte nichts erkennen, was auf einen Angriff hindeutete.
„Bist du sicher?“, fragte er unruhig.
„Natürlich!“, sagte Ambiorix erstaunt. „Sie warten ab, bis wir im Marsch sind!“
„Wie reagieren wir darauf?“, fragte Lucius unsicher und gab sich selbst die Antwort: „Mit einem Viereck!“ Lucius war stolz auf seinen Geistesblitz. „Lass die Männer antreten!“
Die Männer folgten unverzüglich den Hornsignalen und stellten sich auf. Unterdessen setzten sich die Germanen aufreizend langsam in Bewegung.
Lucius informierte hastig seine Männer: „Die Germanen werden uns angreifen, wenn wir auf dem Marsch sind. Ihr müsst prompt und schnell auf alle Kommandos reagieren! Fürchtet euch nicht vor ihrem Geschrei! Wenn sie uns angreifen, bilden wir ein Viereck, damit wir uns nach allen Seiten verteidigen können!“
Flaccus kam auf ihn zu. „Welche Befehle hast du für mich?“, fragte er ironisch.
Lucius stutzte. Er wusste gar nicht, wer von ihnen der Ranghöhere war. Der Centurio einer Legionscenturie stand über dem einer Hilfstruppe, aber Flaccus war Präfekt und nicht Decurio, damit war er eigentlich ranghöher.
„Ich habe nicht vor, dir Befehle zu erteilen, aber ich muss trotzdem meine Männer vorbereiten!“ Flaccus hob beschwichtigend die Hand: „Sollte ein Scherz sein! Aber trotzdem, meine drei Schwadronen können die Germanen nicht aufhalten, sie können euch nur etwas Zeit für die Aufstellung verschaffen. Aber was dann?“
„Wir werden ein Viereck bilden!“, erklärte Lucius. „Am besten nehmen wir die Pferde in die Mitte!“
Flaccus schüttelte den Kopf. „Keine gute Idee. Bei einem großen Viereck wäre es sinnvoll, aber bei so einem kleinen? Jeder Speer, der deine Männer verfehlt, trifft unsere Pferde. Das wird sie in Panik und Raserei versetzen! Ich glaube nicht, dass ihr das in eurem Rücken gebrauchen könnt!“ Das hatte Lucius nicht bedacht. Aber Flaccus fuhr bereits fort: „Wir werden zunächst zwischen euch und den Germanen bleiben. Wenn ihr euch aufgestellt habt, ziehen wir uns zurück und bilden die Rückseite des Vierecks.“
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