Er wandte sich um und winkte den Primipili zu. Der Primipilus der Gallica trat vor und begann eine Liste mit Namen aufzurufen, zuerst gewöhnliche Soldaten, dann die principales und zuletzt die Centurionen, die mit dem Armreif für Tapferkeit ausgezeichnet wurden. Die Aufgerufenen versammelten sich auf dem Forum und erhielten von ihrem jeweiligen Legaten die Auszeichnungen.
Danach trat Marcus Canidius vor und die gleiche Zeremonie begann von Neuem. Bei jedem Namen stießen die Legionäre laute Beifallsrufe aus.
Lucius glaubte sich verhört zu haben, als sein Name fiel. Er brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass auch er unter den geehrten Soldaten war.
„Lucius Justinius Marcellus, zweite Centurie der Hastaten in der 8. Kohorte.“
Er ging wie ein Schlafwandler nach vorn und es war wie ein Traum, als man ihm den Armreif überreichte. Einen silbernen Armreif, verliehen für Tapferkeit. Er wandelte auf seinen Platz zurück, immer noch mit dem Gefühl, gleich mit einem lauten Knall wach zu werden.
Es folgte die Ehrung der Rapax und der Gemina. Lucius war benommen. Sein erster Feldzug, seine erste Auszeichnung. Er hatte es allen gezeigt. In dem ganzen Theater der altgedienten Centurionen um Erfahrung und Tapferkeit steckte doch ein großer Teil Heuchelei. Dieser Feldzug war erfolgreich verlaufen, aber er stand nicht für die Tapferkeit und den Mut seiner Teilnehmer. Er war vielmehr hauptsächlich durch Marschieren und die Einhaltung eines Zeitplanes gewonnen worden. Entscheidend für diesen Feldzug waren der hohe Ausbildungsstand der Soldaten, die Organisation der Legion und die exakte Planung.
Dies waren Dinge, für die man keine zwanzig Jahre Diensterfahrung brauchte. Wenn er sich anstrengte und weiterhin sein Bestes gab, käme er auch vorwärts. Er hatte in diesem Jahr bewiesen, dass er den Aufgaben eines Centurios gewachsen war.
Als sich jedoch abends die anderen Centurionen trafen, um den Abschluss des Feldzuges zu feiern, erging an Lucius keine Einladung. Sie begegneten ihm zwar nicht mehr mit offener Feindseligkeit, aber doch mit betonter Gleichgültigkeit. Ein Feldzug und eine Tapferkeitsauszeichnung, was war das schon? Da hatte er eben Glück gehabt.
Auch im Feldherrenzelt wurde gefeiert und die Tribune erzählten sich gegenseitig von ihren Abenteuern und Gefechten. Drusus horchte auf, als Tiberius von seinem Besuch bei den Latobrigen, die auf den Höhen des Abnoba lebten, berichtete.
„Wir haben leider nicht so viel Getreide bekommen, wie wir gehofft hatten, da sie sehr unter den Überfällen der Germanen leiden!“
Drusus’ Augen leuchteten auf. „Das wäre doch ein guter Abschluss eines erfolgreichen Jahres: ein Sieg über die Germanen!“
„Ruhig Blut, Bruder!“, sagte Tiberius beschwichtigend. „Gegen die Germanen ziehen wir noch früh genug!“
„Ja, aber im Norden. Nein, jetzt ist eine gute Gelegenheit, ihnen auf die Finger zu klopfen. Wir haben vier Legionen hier und noch mindestens sechs Wochen, pah, acht Wochen, die wir für den Feldzug nutzen können!“
„Da ist etwas Wahres dran, Tiberius!“, warf Varus ein. „Ein kleiner Vergeltungszug kann nicht schaden!“
Seit der Niederlage bei Noreia war es ein unverrückbarer Eckpfeiler römischer Außenpolitik geworden, unter keinen Umständen Germanen in römischem Einflussgebiet zu dulden. Der letzte Versuch germanischer Stämme, in römischem Gebiet Fuß zu fassen, lag vierzig Jahre zurück und war von Gaius Julius Caesar zurückgeschlagen worden.
„Es müssen auch nicht alle vier Legionen sein!“, fügte Drusus hinzu und schenkte allen sein strahlendes Lächeln. „Ich nehme die Rapax und die Augusta, das sind die stärksten Kontingente, dazu noch die Reiter und die Belgen. Die Gemina bleibt mit meinen Hilfstruppen hier, sie geht im Frühjahr über die Alpen zurück. Du marschierst mit der Gallica und den restlichen Hilfstruppen nach Basilia, wo ich dann zu dir stoße.“
Tiberius sah nicht besonders glücklich aus, aber er wusste, wenn sein Bruder sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht mehr davon abzubringen.
„Einverstanden!“, war daher alles, was er dazu sagte.
„Fein!“, rief Drusus und rieb sich unternehmungslustig die Hände. „Dann breche ich übermorgen auf!“
Ich werde mir den Beinamen Germanicus erwerben, dachte er bei sich, und ihn an meinen Sohn vererben.
Lucius befahl dem Cornicen, zum Wecken zu blasen. Während die Hornsignale durch das Lager hallten, rannte er zwischen den Zelten auf und ab.
„Aufstehen, los, raus aus den Zelten, ihr seid immer noch bei der Legion! Antreten! Los, alle raus! Antreten!“
Die Männer krochen aus ihren Zelten. Sie sahen alle übernächtigt und verkatert aus. Mühsam und widerwillig traten sie an.
„Wir haben neue Befehle und marschieren heute noch ab!“
Ein drohendes Murren breitete sich unter den Männern aus, und nicht nur in ihrer Centurie, sondern auch von den Nachbarcenturien hörte man ein Summen wie von wütenden Bienen.
Lucius neigte den Kopf zu Mallius, der mit seiner Standarte neben ihm stand, und fragte: „Willst du einen Sesterz setzen?“
Da das Gesicht des Signifer durch seinen Maskenhelm verdeckt war, konnte er seine Miene nicht sehen, als Mallius den Kopf schüttelte, aber Lucius hätte schwören können, dass er grinste.
In dem Moment scholl das von ihm erwartete „Einen neuen!“ von der 10. Kohorte herüber. „Schade!“, seufzte Lucius. „Ich hätte gewonnen!“
Dann sah er wieder zu seinen Männern und in ihre wütenden, aufsässigen Gesichter.
„Glaubt ihr, ihr seid ab heute im Urlaub? Wenn ihr nicht marschiert, werdet ihr Straßen bauen oder Lager errichten, Felder roden, Kanäle ziehen, oder Waffenübungen abhalten. In einem Punkt könnt ihr sicher sein: In der römischen Legion gibt es für jeden genug zu tun, und wenn ihr für die Legionäre da drüben Latrinen aushebt. Und jetzt macht euch marschbereit! In einer Stunde seid ihr fertig!“, brüllte er sie an. „Das Contubernium, das als letztes fertig ist, gräbt eine Woche lang die Latrinen!“
Die Männer eilten zu ihren Zelten und begannen zu packen. Die Maultiertreiber führten die Mulis herbei und die Contubernia begannen, die Tiere mit Zelten, Schanzwerkzeugen, der Mühle und den pila muralia zu beladen. Nach genau einer Stunde stand die ganze Legion abmarschbereit.
In Eilmärschen ging es die Licca entlang nach Norden. Nach zwei Tagen erreichten sie den Danuvius. Sie folgten dem Fluss in mehreren Tagesmärschen nach Westen, bis sie eine günstige Stelle zum Überqueren fanden. Es dauerte einen Tag, bis sich beide Legionen endlich wieder am anderen Ufer gesammelt hatten. Nun befanden sie sich im Waldgebirge des Abnoba.
Lucius war der Gedanke, in dieses Gebiet zu marschieren, nicht geheuer. Hier hatten längere Zeit die Kimbern und Teutonen gelebt. Auch Ariovist und seine Sueben waren von hier nach Gallien einmarschiert.
Die Legionäre wussten nicht, dass Drusus darauf hoffte, auf die Germanen zu treffen. Sie konnten nur Mutmaßungen darüber anstellen, welches Ziel ihr Feldherr mit diesem neuerlichen Feldzug verfolgte. Doch die Angst der Legionäre vor den Germanen saß tief, und so wagte keiner darüber nachzudenken, dass diese das Ziel ihres Marsches sein könnten.
Sie trafen auf ein Oppidum der Latobrigen und mehrere junge Männer erklärten sich bereit, ihnen als Führer zu dienen.
Drusus hatte eine Gruppe Legionäre unter dem Befehl des Tribuns Ahenobarbus ausgeschickt, die Gegend zu erkunden. Das Hastatenmanipel der 8. Kohorte und ein Manipel Allobroger, begleitet von drei Turmae Reiter, näherten sich einer offensichtlich verlassenen Siedlung.
Die Reiter umkreisten diese während Lucius und seine Männer in die Ruinenlandschaft eindrangen. Vorsichtig und kampfbereit, obwohl kaum mit einem Hinterhalt zu rechnen war.
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