Cingetorix und Boiorix traten vor Tiberius hin und legten ihm ihre Waffen zu Füßen. Sie schworen den dreifachen Eid, dass sie den Frieden halten und den Gesetzen der Römer folgen würden. Tiberius sah auf die beiden Häuptlinge und rief dann laut einen Namen: „Eonus!“
Ein dicklicher Mann aus seinem Stab kam angelaufen. Tiberius wandte sich auf Griechisch an Cingetorix: „Das ist mein Arzt. Wenn du möchtest, wird er sich deinen Arm ansehen!“
Cingetorix starrte Boiorix an, der ins Leere blickte, dann sah er zum Himmel und hielt dem Arzt seinen Arm hin.
Das Heer der Licaten löste sich auf und die Frauen und Kinder durften nach Hause zurückkehren. Die Häuptlinge blieben bei Tiberius und zogen mit dem römischen Heer weiter nach Norden. Nach einigen Tagesmärschen erreichten sie den Ort, wo sich die Licca mit der Vinda vereinigte.
Tiberius und Varus befanden, dass dieser Platz ausgezeichnet für ein dauerhaftes Lager geeignet war. Sofort begannen die Ingenieure, den Platz zu vermessen, und die Legionäre errichteten ein Lager, das groß genug für zwei Legionen war. Dann schickte Tiberius Boten zu seinem Bruder Drusus, der zwei Tagesmärsche entfernt bei den Trümmern des Ortes, der einmal Bratanium gewesen war, lagerte. Nachdem Drusus Bratanium geplündert und das Gebiet der Rucinaten und Cosuaneten verwüstet hatte, zog auch er zur Licca und schloss sich der Legion seines Bruders an.
„Nun, wie sehen die Zahlen aus?“, fragte Tiberius die beiden Primipili.
„Nachdem wir vier Kohorten zurückgelassen haben, hat die Gallica immer noch zweitausend kampffähige Legionäre!“, entgegnete deren Primipilus.
Canidius, der immer noch krank aussah, sah auf seine Schreibtafel und erklärte: „Die Augusta hat noch 2.600 kampffähige Legionäre hier und 1.200 in Damasia!“
Tiberius hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte in die Ferne.
„Verpflegung?“, fragte er knapp.
„Da wir den Licatiern ihr Getreide gelassen haben, wird bei uns die Verpflegung langsam knapp. Zwei, höchstens drei Wochen, dann müssen wir anfangen zu rationieren!“
Die beiden Lagerpräfekten tauschten einen kurzen Blick: „In Cambodunum müsste aber mittlerweile genug liegen! Die Quästoren in Basilia und Vindonissa waren angehalten, regelmäßig Nachschub über den Lacus Venetus nach Brigantium zu schicken. Wenn Tribun Lamia seiner Aufgabe gewachsen ist, wird er es nach Cambodunum gebracht haben, wo es auf uns wartet!“ „Wenn wir Schiffe hätten, könnten wir den Nachschub von Damasia über die Licca hierher bringen lassen“, sagte Quirinius bedauernd. „Aber so …“
Tiberius nickte zustimmend und wandte sich an seinen Stellvertreter: „Tribun Gallus. Du wirst mit der 1. und 3. Kohorte und den Belgen nach Cambodunum ziehen und unseren Nachschub holen!“, befahl er. „Die 3. Kohorte bleibt dann mit der 6. Kohorte dort, die 8. Kohorte geht nach Brigantium und löst dort die 7. Kohorte ab. Diese soll den nächsten Transport hierher bringen! Du hast nur zwei Wochen Zeit, beeile dich also!“ Gallus salutierte und verließ das Zelt. „Publius Quintilicius schickt einen Spähtrupp zum Danuvius“, fuhr Tiberius zu Varus gewandt fort. „Er soll das Gebiet die Licca entlang und dann weiter nach Osten aufklären. Dort oben liegt eine alte Keltenstadt, die angeblich verlassen ist!“
„Wenn sie verlassen ist, was soll er dann aufklären?“, fragte Varus.
„Er soll nach Spuren von Germanen suchen!“, sagte Tiberius mit Nachdruck.
Ein Schaudern ging durch seinen Stab und die Tribune sahen sich bedeutungsvoll an. Sie näherten sich dem Gebiet der Germanen!
Zwei Legionslager und mehrere Lager der Hilfstruppen waren errichtet worden. Tiberius nannte das Lager zwischen Vinda und Licca das Castra Vindelicorum. Einzelne Abteilungen der Hilfstruppen durchstreiften noch das Land auf der Suche nach flüchtenden Kriegergruppen, aber das Gros des römischen Heeres hatte sich hier versammelt. Es galt jetzt, das Ende des Feldzuges mit der offiziellen Unterwerfung aller Stämme zu besiegeln.
Die Häuptlinge der Briganten, der Estionen, der Licaten und Cattenaten waren von Tiberius hergebracht worden, die überlebenden Häuptlinge der Cosuaneten und Rucinaten begleiteten Drusus.
Zwischen den Lagern war ein großes Podium errichtet worden, auf dem zwei curulische Stühle für Tiberius und Drusus aufgestellt worden waren. Daneben standen die einfachen Stühle für die Legaten und die Tribune. Vor dem Podium standen die Primipili und die Aquilifer der vier Legionen sowie ein Feldzeichenträger, der das Imago des Augustus trug, damit dieser symbolisch an der Handlung teilnehmen konnte. Auch die Häuptlinge warteten vor dem Podium. Gesäumt wurde der Platz von den Centurionen der vier Legionen sowie einer Abordnung der Kohorten.
Vielleicht hatte der eine oder andere Häuptling gedacht, er könnte bessere Vertragsbedingungen für seinen Stamm herausschlagen. Die Häuptlinge waren Herrscher ihres Stammes und damit Drusus und Tiberius mehr als ebenbürtig. Diese waren schließlich nur Heerführer unter ihrem Herrscher.
Um jedoch jeden Gedanken an Widerstand von vorneherein im Keim zu ersticken, war die Prozession der Häuptlinge zuvor durch die Reihen der Legionen geführt worden. Angesichts der zehntausend Legionäre und Hilfstruppen war der Gedanke an Widerstand so schnell geschmolzen wie Schnee in der Sonne.
Jedem Stamm wurde ein eigener Vertrag vorgelegt, der in Griechisch und Latein verfasst war. Da die Häuptlinge nicht lesen konnten, las man ihnen die Vereinbarungen vor. Darin wurden die Grenzen der Civitas der Stämme festgelegt sowie ihre Rechten und Pflichten und die Tribute, die sie zu zahlen hatten. Die Häuptlinge nahmen alles ruhig hin.
Nur bei einem Punkt flammte noch einmal Widerstand auf: Jeder Stamm musste Kontingente von jungen Männern an Rom übergeben, die in den Hilfstruppen dienen sollten. Die Kelten fanden es erniedrigend, dass ihre jungen Männer für fremde Herrscher kämpfen sollten. Außerdem brauchten sie diese, um das Land vor den Germanen zu schützen. Letzteren Einwand wies Drusus allerdings mit dem Hinweis auf die Anwesenheit Roms zurück: Solange ihr Land zum römischen Reich gehörte und von römischen Legionen geschützt werde, bräuchten sie sich um die Germanen keine Sorgen mehr zu machen. Roms Geduld mit den Germanen sei ohnehin am Ende. Rom werde eine Reihe von Lagern errichten, um die Germanen im Zaum zu halten.
Nachdem unter den Jubelrufen der Legionäre auch der letzte Häuptling sein Zeichen unter den Vertrag gesetzt hatte, riefen die Trompeten zum Antreten. Es dauerte einige Zeit, bis der Befehl ausgeführt war, dann kam das Kommando: „Ruhe!“
Sofort verstummte das Gerede und eine erwartungsvolle Stille senkte sich über den Platz. Ein Fetialpriester trat vor und hielt die Zeremonie ab. Dabei sprach er Beschwörungen in uraltem Latein und reckte schließlich einen Speer mit beiden Händen zum Himmel.
Drusus stand auf und trat an den Rand des Podiums: „Milites. Dieser Speer wurde vor einigen Wochen in Rom von den Fetialpriestern zuerst geweiht und dann in einer uralten, heiligen Zeremonie im Tempel der Bellona auf Feindesland geschleudert. Der Speer hat den Weg von Rom bis hierher gemacht, und der Krieg wurde zu einem ruhmreichen Ende gebracht.“
Die Legionäre jubelten.
Drusus wartete, bis sich der Lärm gelegt hatte. „Milites. Ihr habt einen Feldzug mit großer Tapferkeit und Ausdauer geführt. Die Feinde Roms, die seit Jahren unsere Nordprovinz bedroht haben, habt ihr bezwungen und tributpflichtig gemacht. Und …“ Er machte eine bedeutsame Pause. „Voller Stolz und Freude erzähle ich euch, dass das Geschlecht der Claudier wächst und gedeiht. Mein Bruder Tiberius ist stolzer Vater eines Sohnes geworden, und meine Frau hat unseren ersten Sohn zur Welt gebracht.“ Die Soldaten jubelten ihren Feldherren zu. „Zu Ehren dieses besonderen Ereignisses werden heute die Legionen einige Fässer Wein von uns bekommen!“ Der Jubel wurde noch lauter. „Auf euch warten jetzt neue Aufgaben, aber bevor wir auseinandergehen, sollen die Tapferen unter euch geehrt werden.“
Читать дальше