„Na und?“, erwiderte Lucius angriffslustig. „Ich werde am Rhenus gegen die Germanen kämpfen, während ihr euch hier die Ärsche platt sitzt!“
Valens’ Mund verzog sich überraschend zu einem Lächeln
Lucius war irritiert. „Können wir?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen, und deutete auf die Truhe. Lucius schleppte die Truhe zu Mallius, der die Soldlisten der Centurie bereithielt. Wenn es eines Beweises bedurfte, dass die Legion ein Dorf war, dann war es die Tatsache, dass Mallius und Celsonius schon über Lucius’ Versetzung Bescheid wussten und ihn erwartet hatten.
Gemeinsam sahen sie die Unterlagen durch, verglichen die Sold- mit den Proviantlisten, sahen sich die Krankenunterlagen an und überprüften die Wacheinteilung. Dann quittierten alle vier die ordnungsgemäße Übergabe. Valens ließ die Centurie antreten, um die Ausrüstung zu überprüfen. Die Legionäre der anderen Centurien hatten offensichtlich bemerkt, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Für ein geschäftiges Legionslager gab es plötzlich viel zu viele Männer, die Freizeit hatten und zusahen.
Valens nahm sich so ausgiebig Zeit, alles zu untersuchen, dass Lucius schon befürchtete, an diesem Tag nicht mehr aufbrechen zu können. Such du nur, du verdammter Bastard, dachte er bei sich. Du wirst nichts finden.
Schließlich gab Valens mit einem kurzen Nicken sein Einverständnis. Celsonius ließ die Centurie Lucius zum Abschied noch einmal grüßen und dann wegtreten. Die Männer legten ihre Waffen weg und kamen dann zu Lucius’ Zelt, um ihm beim Packen und Verladen der Sachen auf ein Maultier zuzusehen. Lucius hatte einen Kloß im Hals, als er fertig war und sich zu den Männern umdrehte. Zu SEINEN Männern! Dies war sein erstes Kommando, seine erste Centurie gewesen, und er würde sie bestimmt nie wieder sehen. Er musterte die Gesichter der Männer und sah zu seiner Überraschung echtes Bedauern in den meisten von ihnen.
„Jungs, ihr seid eine großartige Centurie. Die beste!“, rief er unter dem Jubel der Männer. „Macht mir keine Schande!“
Er nahm das Maultier am Zügel und unter den Segenswünschen der Männer führte er es zur Via Praetoria. Hilarius und Vitellius beobachteten ihn und – Lucius konnte es kaum glauben – hoben die Hand zum Gruß. Lucius grüßte überrascht zurück.
Valens begleitete ihn schweigend bis zum Forum. Dort musste Lucius einen Moment warten, während Valens in die Baracke des Präfekten eilte, um eine Schriftrolle und eine Wachstafel zu holen.
„Dies ist ein Schreiben für deinen neuen Kommandeur!“, sagte er und reichte ihm die Wachstafel. „Und dies deine offizielle Entlassung aus der Augusta!“
Lucius verstaute die beiden Schriftstücke in seinem Gepäck. Dann sah er noch einmal zum Heiligtum hinüber und grüßte den Adler, bevor er sein Maultier auf die Via Principalis führte, um zur Porta Principalis Dextra zu gelangen. Er würde sich einem Proviantzug nach Vesontio anschließen und von dort aus nach Reisemöglichkeiten gen Norden suchen müssen. In das Gebiet der Ubier. Auch die Sugambrer streiften irgendwo nahe dieser Gegend umher. Die Clades Lolliana musste sich dort ereignet haben. Wieder einmal hatte sich der schon so oft gehörte Spruch bewahrheitet: Wenn man unter dem Adler dient, muss man mit allem rechnen.
Ihm fiel plötzlich auf, dass er den Brief an Marcus noch immer in der Hand hielt. Es würde eben noch etwas dauern, bis er seine Familie wiedersah und zum ersten Mal seine Nichte, die kleine Fürstin. Was aber sollte er jetzt mit dem Brief machen? Er blieb stehen, zog ihn aus seiner Tunica und sah ihn ratlos an. Valens, der ihn schweigend begleitet hatte, streckte wortlos die Hand aus, und nach kurzem Zögern reichte ihm Lucius den Brief.
Dem primi ordinis war das Zögern nicht entgangen. „Keine Sorge, ich klaue kleinen Jungs nicht ihre Briefe!“
Lucius nickte und setzte sich in Bewegung. Nach einigen Schritten bemerkte er, dass Valens ihn immer noch begleitete.
„Du willst wohl ganz sicher sein, dass ich das Lager auch verlasse!“, schnaubte er.
„Und den Wachen sagen, dass sie dich eher töten als wieder ins Lager lassen sollen!“, bemerkte Valens leichthin.
Lucius warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Das wäre dir wirklich zuzutrauen, du Scheißkerl und Leuteschinder.
„Du hast doch viel gelesen, Marcellus!“, stellte Valens plötzlich fest.
Lucius, über diese Eröffnung überrascht, nickte schweigend.
„Was hast du über den Krieg gegen die Cantabrer und Asturer gelesen?“, hakte Valens nach.
„Nicht viel!“, sagte Lucius und sah zu den Werkstätten hinüber.
„Da gibt es auch nichts Rühmenswertes zu schreiben!“, bemerkte Valens bissig. „Es war ein schmutziger Kleinkrieg. Bei jeder Patrouille, bei jedem Versorgungszug, bei jedem Fouragieren mussten wir mit einem Überfall rechnen.“ Lucius hörte gebannt zu, während sie sich dem Tor näherten. „Die Soldaten und Offiziere waren schlecht ausgebildet und machten viele Fehler. Es wurde erst besser, als Agrippa das Kommando übernahmen.“ Valens’ Tonfall wurde heftiger. „Wenn du siehst, wie deine Freunde und Kameraden um dich herum sterben, weil die Anführer Fehler machen, möchtest du die Welt verfluchen und diese Dilettanten eigenhändig einen Kopf kürzer machen. Denn die Fehler, die bei jenem Feldzug gemacht wurden, waren Anfängerfehler!“
Müde fuhr er fort:„Aber diese Anfänger haben das Kommando, weil ihr Vater reich ist und jemanden kennt, der jemanden kennt, und weil ihre Vorfahren bedeutend waren und weil sie sich bei den richtigen Leuten eingeschleimt haben!“ Sie waren am Tor stehen geblieben. „Sie hören auf nichts und niemanden, sondern gehen davon aus, dass sie jede Menge von Kriegführung verstehen. Weil sie viel darüber gelesen haben. Außerdem glauben sie, weil einer ihrer erlauchten Ahnen irgendwann mal irgendwo gegen irgendwen ein Scharmützel gewonnen hat, werden sie in kritischen Situationen von Mars persönlich Beistand erhalten!“
„Und deswegen hast du gedacht, den unerfahrenen Möchtegern-Centurio, der sich sein Amt nur erschlichen hat, vergraulen wir, indem wir ihn in den Tartarus versetzen!“, sagte Lucius herausfordernd. „Warum hast du mich nicht gleich totgeschlagen? Oder totschlagen lassen, ein primi ordinis macht sich sicher nicht selbst die Hände schmutzig.“
„Nein, dafür habe ich meine Leute!“, bestätigte Valens trocken. „Celsonius hätte dich liebend gerne abgestochen, dem solltest du nicht im Dunkeln begegnen!“ Valens grinste. „Ich habe ihm aber gesagt, wenn er wirklich Optio werden will, darfst du keinen tödlichen Unfall haben!“
Lucius starrte ihn mit offenem Mund an: „Moment! Verstehe ich das richtig? Celsonius wollte mich töten, und du hast es verhindert?“ Lucius konnte nicht glauben, was er da gehört hatte.
„Ja, fast!“, bestätigte der primi ordinis . „Ich habe ihn beauftragt, dir das Leben schwer zu machen!“ – „Und dafür hast du ihm versprochen, dass er Optio wird. Vorausgesetzt, ich habe keinen tödlichen Unfall!“, fasste Lucius zusammen. „Und Vulso und Antinius? Hast du die auch gegen mich aufgehetzt?“ Er erinnerte sich an die Schikanen und den nächtlichen Überfall.
„Die brauchte ich nicht aufzuhetzen. Die waren rasend vor Wut, ich musste ihre Wut nur in die richtigen Bahnen lenken!“
„Und dass du Carvus’ und Mellonius’ Zukunft zerstört hast und sie in ihrer Familie möglicherweise in Ungnade gefallen sind, ist dir egal?“, fragte Lucius hitzig.
„Scheißegal!“, sagte Valens eiskalt. „Wenn ich die Wahl zwischen dem Leben von zwanzig guten Männern und der Ehre eines reichen Pinkels habe, fällt mir die Wahl leicht. Dir etwa nicht?“
Stille. Lucius verstand. „Doch, mir auch“, sagte er tonlos.
Zum ersten Mal konnte Lucius Valens ohne Abscheu und Angst begegnen. Und irgendwie begann er zu verstehen, was diesen Mann zu dem gemacht hatte, der er war.
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