1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Er grüßte den Hausmeister, der gerade ein an die Wand gespraytes »Schmarotzer!« entfernte, und trat durch eine abgedunkelte Schiebetür in die Lobby. Im Inneren des Gebäudes war es kühl, aber das störte ihn nicht.
Du hast eine Würfelfreie Zone betreten und bist jetzt offline.
Vollkommene Stille umgab ihn, als hätten seine SmEars auf »taub« geschaltet. Es gehörte zum guten Ton in Kryptocentern, nicht laut zu sprechen.
Wo sich früher die Rezeption befunden haben musste, standen nun Schließfächer. Jedes gehörte zu einem der Zimmer, von denen laut Anzeige gerade vierzehn frei waren. Vor den Fächern warteten etwa zwei Dutzend Menschen, eine normale Zahl für einen Samstag. Manche trugen ebenso bunte Kleidung wie Taso, andere Grau in Grau, wieder andere Masken.
Er stellte sich ans Ende der Schlange. Die Frau vor ihm hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und den Kopf zu Boden gesenkt, als schämte sie sich dafür, hier zu sein. Weiter vorn flüsterte ein Pärchen und kicherte dabei immer wieder. Vor ihnen stand ein Mann in einem Batmankostüm mit seinem als Robin verkleideten Sohn. Der Junge hatte ungefähr Yasins Alter. Der Gedanke an seinen Neffen und Peter versetzte Taso einen Stich.
Plötzlich drangen laute Stimmen durch die Stille. Er drehte sich zur Tür und sah eine Gruppe junger Männer hereinkommen. Sie grölten und lachten, waren offenbar betrunken.
»Wie siehst du denn aus?«, rief ein großer Dunkelhaariger und zeigte lachend auf einen seiner Freunde, der einen schmuddeligen Jogginganzug trug. »Smarts funktionieren in WfZs nicht, du Idiot! Also Frauen kannste heute vergessen!« Der Angesprochene schien sich für seine Unwissenheit oder die Kleiderwahl nicht zu schämen, und lachte einfach mit.
Der Dunkelhaarige sah zu der Menschenschlange und fuhr sich lässig mit der Hand durchs Haar. Er war offensichtlich der Anführer der Horde. Sein gutes Aussehen, seine Gestik, sein abschätziger Blick – alles an ihm provozierte Taso. »Was ist das denn für eine traurige Veranstaltung?«, rief er den Wartenden zu. »Gibts hier keine Musik?«
Daraufhin lallte er eine Melodie, die Taso nicht kannte, und dirigierte mit den Fingern den Chor seiner Freunde. Sie waren nicht halb so melodiesicher wie er, und so erstarb das Gebrumme rasch wieder.
Taso vermied es, den Eindringlingen direkt in die Augen zu sehen. Gruppen wie diese waren auch schon vor dem Referendum nicht für ihre ausgeglichene Art bekannt gewesen. Gegenüber Offlinern hatten sie erst recht keine Hemmungen. Mit einem kurzen Blick prüfte Taso die Schlange vor sich. Sie war immer noch lang. Batman und Robin waren jetzt an der Reihe, der Vater schubste seinen Sohn ungeduldig nach vorn.
Nachdem sich die Gruppe Betrunkener vollständig im Gebäude versammelt hatte, lösten sich zwei humanoide Sicherheitsroboter aus den Wänden, staksten in die Mitte des Raums und versperrten den Männern den Weg. Die etwas ungelenken Metallkästen wirkten mit ihren knallroten Uniformen nicht besonders Furcht einflößend, aber jeder wusste, dass sie zur Not Elektroschocker einsetzen würden. Auf der Rückseite der Roboter prangte das gelbe Logo der Shields GmbH, ein Unternehmen des Milliardärs Hugo Faber, der neben den Kryptocentern des Landes auch Diagon Alley betrieb.
»Bitte verlassen Sie das Gebäude«, sagte der vordere Roboter freundlich, aber bestimmt. Die Männer lachten spöttisch, als hätte ihnen ein Kind einen Befehl erteilt.
»Aussss dem Weg!«, lallte der Mann im Jogginganzug und versuchte, den Roboter zur Seite zu schieben. Der schien schwerer zu sein, als er aussah, und bewegte sich keinen Zentimeter.
»Was soll das?«, rief der große Dunkelhaarige. »Wir wollen nach Diagon Alley!«
»Bitte verlassen Sie das Gebäude«, wiederholte der Roboter etwas lauter.
»Warum denn? Wir sind doch ganz brav, du Scheißding!«
»Sie stören die Ordnung unseres Hauses. Bitte fahren Sie direkt nach Diagon Alley.«
»Aber man muss doch erst hierher, wenn man in eine WfZ will!«
»Soll doch keina wissen, dass wir da hinwolln«, fügte der Jogger hinzu und versuchte erfolglos, sich den Zeigefinger auf die Lippen zu legen.
»Wir sind sicher, dass dem Würfel Ihr geplanter Besuch in Diagon Alley längst bekannt ist. Sie brauchen keine Verschlüsselung. Verlassen Sie jetzt das Gebäude.« Die Roboter machten einen Schritt auf die Männer zu. An deren Stelle hätte Taso längst das Weite gesucht. So aber fühlte er sich stark, als hätte er den Angreifern selbst Einhalt geboten.
»Verlassen Sie das Gebäude, oder wir sehen uns gezwungen, Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen.« Beide Roboter sprachen nun im Chor und bewegten sich weiter auf die Männer zu.
Der Dunkelhaarige zischte seinen Freunden etwas zu und hob beschwichtigend die Hände. »Okay, okay«, rief er, »wir gehen ja schon!« Er drehte sich um und war als Erster der Gruppe am Ausgang. »Rückzug, Männer!« Unter lautem Protestgejohle folgte die Herde ihrem Leithammel. Als sie fort war, blieben die Roboter noch eine Weile im Eingangsbereich stehen. Taso atmete auf. Innerlich triumphierte er, dabei mochte er Sicherheitsroboter gar nicht.
Als er endlich an der Reihe war, rief ihn ein Blinklicht zum Schließfach 307. Wie stets wurde ihm dort auf einem kleinen Bildschirm erklärt, dass die WfZ nicht mit dem Würfel verbunden war und außer einer Abfrage des Pred-Scores keine Daten mit ihm austauschte.
Die Garantie der damaligen Regierung, Würfelfreie Zonen mit derlei Privilegien zuzulassen und auch Offlinern ein Grundeinkommen auszuzahlen, hatte viele Skeptiker dazu bewegt, beim Referendum für den Würfel zu stimmen. Sosehr Taso den Ausgang der Abstimmung verdammte, so dankbar war er heute für die verbliebenen Zufluchtsorte und die finanzielle Sicherheit. Ohne sie wäre er vermutlich längst wahnsinnig geworden – oder, schlimmer noch, Kubist.
Bist du einverstanden, dass das Shields-Kryptocenter A1 zur Berechnung des Zimmerpreises und der Inter-WfZ-Transferkosten deinen aktuellen Pred-Score abruft?
In allen Shields-Einrichtungen subventionierten Menschen mit hohem Pred-Score jene mit niedrigem. Taso zahlte für eine Verschlüsselung etwa ein Achtel des Preises, den zum Beispiel sein Bruder zahlen müsste.
Er tippte auf »Ja«.
Ein Zimmer kostet für dich 10 Euro und 32 Cent, der Transfer 19,4 Cent pro Kilometer. Möchtest du eine Buchung vornehmen?
Taso bejahte auch diese Frage, und das Schließfach öffnete sich. Er nahm ein verstellbares Gummiarmband heraus und streifte es über das Handgelenk. Darauf war nun sein aktueller Pred-Score – 19,93 – und eine temporäre Identifikationsnummer gespeichert; beides zusammen würde ihm Zugang zu Zimmer 307 und später zu Diagon Alley verschaffen. Außerdem zeichnete das Armband mit dem ersten Anlegen das Profil seines Herzrhythmus auf, sodass kein anderer es benutzen konnte.
In der Umkleide verstaute Taso in einem weiteren Schließfach, das er mit dem Armband öffnete, seine Smarts und ließ sich auf versteckte und implantierte Aufzeichnungsgeräte scannen. Dann nahm er den Aufzug nach oben.
Zimmer 307 sah aus wie jeder andere Warteraum im Krypto One: Wände, Decke, Boden waren weiß, die Einrichtung funktional und anonym. Bis auf ein einfaches Holzbett mit weißer Bettwäsche, einen Stuhl, Schrank und kleinen Kühlschrank mit Erfrischungen war das Zimmer leer. Das angrenzende Badezimmer war ebenso karg und spartanisch eingerichtet. Er legte sich auf das Bett und schaltete mit einem Winken den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand ein. Seine Identifikationsnummer würde nun mit denen der übrigen Besucher des Kryptocenters durchmischt. Irgendwann würde er für die anonyme Weiterfahrt gezogen. Gäbe es weniger Drohnen, Smarts und Sensoren, wäre ein unbeobachteter Ortswechsel einfacher. So aber gab es nur diese zeitraubende Methode.
Читать дальше