1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 »35 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, Herr Kulic!«, hatte sie auf dem Höhepunkt der Debatte gerufen. »Wie wollen Sie das je wieder in den Griff kriegen? Das Zeitalter der Arbeit ist vorbei, wir brauchen etwas Neues!«
»Ich bin ja auch für ein Grundeinkommen«, erwiderte Kulic, »nur nicht auf Kosten unserer Freiheit!«
»Reden Sie keinen Quatsch – unsere Freiheit steht überhaupt nicht auf dem Spiel. Im Gegenteil, erst im Kubismus werden wir frei sein … frei zu tun, wonach uns der Sinn steht!«
Kulic schüttelte den Kopf. »Und für dieses leere Versprechen wollen Sie unseren besten Unternehmen ihre Daten klauen? Das ist Kommunismus der übelsten Sorte!«
»Jetzt machen Sie sich doch nicht lächerlich.« Die junge Frau lehnte sich betont langsam in ihrem Stuhl zurück. »Wenn das Kommunismus wäre – hätten dann ausgerechnet die Amerikaner den Würfel erdacht und eingeführt? Hätte in den letzten Monaten die halbe EU mit deutlichen Mehrheiten zugestimmt und würden die Umfragen zeigen, dass bis zum Sommer auch der Rest nachziehen wird? Die Daten haben schon immer uns gehört, wir holen uns diesen Schatz nur zurück. Und das ist bitter nötig, schauen Sie nach Asien: Unsere Konzerne haben dem gigantischen Datenpool der Chinesen nichts entgegenzusetzen! Die Monopolisierung unserer Daten ist die einzige Chance, auf diesem Planeten überhaupt noch eine Rolle zu spielen.«
Nach dieser Diskussionsrunde hatte Taso zum ersten Mal daran gezweifelt, dass die Würfelgegner das Referendum gewinnen würden. Denn plötzlich galten sie irrwitzigerweise als die Freunde des Großkapitals, die Chinas Machtübernahme tatenlos zusehen wollten.
Man sah Diagon Alley an, dass es in die Jahre gekommen war. Hugo hatte zwar mächtig in die Restaurierung investiert, aber Innendesign und Substanz der unteren Etagen stammten erkennbar noch aus einer anderen Zeit. Mit abnehmenden Besucherzahlen sanken auch die Mieteinnahmen, sodass immer weniger Geld für Wartung, Energieversorgung und Reinigung blieb. Hier bröckelte der Putz, dort quoll der Mülleimer über, einige Rolltreppen fielen wochenlang aus, Licht und Klimaanlage blieben so oft wie möglich abgeschaltet. Taso scherte all das genauso wenig wie früher der Staub und das Chaos in seinem Kinderzimmer.
In der ersten Etage des Gebäudes fand man alles, was man zum Leben als Offliner brauchte: Zahlreiche Gauklerläden verkauften Masken, Stimmenwandler, Verkleidungen, Fingerkuppen- und Irisschutz, Störgeräte, Elektronikdetektoren, Drohnenfangnetze, extra stark deckende Farben und Milchglasfolie. Es gab Buchläden für klassische und moderne Literatur, die sich draußen nicht mehr verkaufte, mit unzähligen Ratgebern zum Leben unter Kubisten und mit Fachbüchern zu Psychologie, Philosophie und Religion. Es gab Antiquitätenhändler mit alten Computern, Fernsehern, Kameras und Spielkonsolen, die außerhalb von WfZs niemand mehr brauchte. Andere Geschäfte verkauften Schminkutensilien und Kleider, die noch von Menschen entworfen und hergestellt worden waren und weder die Menge noch die Zusammensetzung von Körperausdünstungen maßen. Wieder andere Läden verkauften alte Filme und Musik, echte Instrumente und Spielzeug, das nie einen 3-D-Drucker von innen gesehen hatte.
Die zweite Etage bildete das Herz von Diagon Alley: Hier hatten unzählige Vereine und Organisationen ihre Zentralen. Jeden Tag, vor allem aber am Wochenende, gab es Arbeitssitzungen, Diskussionsrunden, Seminare, Vorträge, Lesungen oder Filmvorführungen. Die beiden größten politischen Widerstandsgruppen operierten von hier aus: die säkulare Humanistische Allianz – meist nur »Allianz« genannt – und die Bekennenden Christen. Taso schlenderte gern durch diese Etage und schaute mal hier, mal dort hinein, um sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten und neueste Entwicklungen zu diskutieren.
Die dritte Etage füllten Restaurants, Cafés, Bars und ein paar Clubs. Hier halfen keine Smarts beim ersten Kontakt mit Fremden. Jeder hörte dieselbe Musik in derselben Lautstärke, sah die gleiche Umgebung und wusste genauso wenig von den anderen wie die anderen von ihm.
Ganz oben hatte Hugo achtzig Wohnungen gebaut. Die Hälfte von ihnen konnte man mieten. Reiche Offliner zahlten Unsummen für ihre eigene Wohnung in Diagon Alley, aber nur die wenigsten nutzten sie durchgängig. Zwanzig Wohnungen wurden jedes Jahr aufs Neue verlost. Taso stand seit ihrem Bau auf der Kandidatenliste und war jedes Mal wieder enttäuscht, wenn sein Name nicht gezogen wurde.
Die übrigen Wohnungen waren reserviert für »Personen mit besonderer Bedeutung für die humanistische Bewegung«. Taso kannte nur zwei Menschen aus diesem Kreis persönlich: Pascale Bellaxa, die Chefin der deutschen Sektion der Allianz, und seinen alten Freund Ronny Sieg alias »Rosie«.
Rosies Bar war eher ein Café als eine Bar und hatte fast immer geöffnet. Sie lag an der Außenseite des alten Speichers, mit Blick auf Hafen und Kanal, aber durch die abgedunkelten Scheiben konnte man kaum etwas davon erkennen. Die Inneneinrichtung war ebenso charmant wie chaotisch: Kein Stuhl, Tisch, Glas oder Löffel glich dem anderen. Überall standen und lagen kleine und große Erinnerungsstücke an die präkubistische Zeit, platziert nach einer allenfalls Rosie selbst verständlichen Logik. Diverse Steh- und Hängelampen schafften ein unregelmäßiges Gemisch aus Licht und Schatten, in dem man sich je nach Stimmung für alle sichtbar amüsieren oder aber verstecken konnte.
Heute waren nur zwei Tische besetzt. Am ersten spielten zwei Rentner Schach, ein dritter saß mit gewichtiger Denkerpose daneben. Etwas abseits war eine alte Frau in ein Buch vertieft, neben ihr stand eine halb leere Kaffeetasse. Hinter der Bar versuchte eine vertraute Gestalt den Karton einer Whiskyflasche zu öffnen, ohne ihn zu beschädigen. Rosie fluchte, als es misslang und der Karton einriss. Er hatte dunkle Augenringe und sah noch müder aus als sonst. Als er aufblickte, hellte sich sein Gesicht auf. »Taso!« Der gut aussehende Endvierziger kam freudestrahlend hinter dem Tresen hervor und umarmte ihn mit der gewohnten herzlichen Übertreibung.
Er war Rosie das erste Mal bei einer Demo begegnet, noch vor dem Referendum. Damals hatte Rosie noch Dokus gedreht und wollte Taso, der die Demo organisiert hatte, ein paar Fragen stellen. Taso mochte schon damals keine Öffentlichkeit und lehnte ab, woraufhin Rosie so lange seinen Charme spielen ließ, bis Taso schließlich nachgegeben hatte. Nach dem Referendum hatte Rosie seinen Beruf aufgegeben und war nach einem bitteren Streit mit seinem damaligen Freund offline gegangen. Über die Jahre hatte Taso in ihm einen verlässlichen Wegbegleiter gefunden. Sie sahen sich regelmäßig, denn Taso verließ Diagon Alley nie ohne einen Besuch bei ihm, so kurz er auch sein mochte. In den letzten Monaten war Rosie allerdings nie da gewesen, wenn Taso die Bar besucht hatte.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?« Taso wollte freundlich klingen, konnte einen gewissen Vorwurf in seiner Stimme aber nicht unterdrücken. Er setzte sich auf einen Barhocker, Rosie machte sich hinter der Theke weiter an dem Whiskykarton zu schaffen und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Er lächelte und machte eine wegwischende Handbewegung. Das hatte er in solchen Situationen schon öfter getan. Rosie sprach sehr offen über alles, nur über seine Rolle im Widerstand schwieg er. Taso wusste nur, dass er wie Tim Mitglied der Humanistischen Allianz war und von allen sehr respektiert wurde. Während Tim allerdings immer mal wieder etwas erzählte und Taso auf Augenhöhe begegnete, hielt sich Rosie auch nach wochenlangem Verschwinden bedeckt. Wenn er dann wieder aufgetaucht war, hatte er sich abwehrend verhalten wie heute.
Taso bohrte nicht weiter. Er bestellte einen Atwood, Rosies alkoholfreie Alternative zum Bloody Mary, und unterhielt sich eine Weile mit seinem Freund über teure Whiskysorten. Dann schnappte er sich den aktuellen Gaukler vom Tresen und setzte sich an einen Tisch mit Blick nach draußen. Er schlug die Zeitung auf und wollte gerade die neusten Offlinernews studieren, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte. An der Bar stand Tim und begrüßte Rosie. Wie immer trug er eine blaugraue Jeans und ein weißes T-Shirt, darüber eine enge schwarze Stoffjacke. Auf seiner hellen Haut und in Kontrast zu den kurzen blonden Wuschelhaaren sprang Taso das neue Tattoo an seinem Hals sofort ins Auge: das Symbol der Allianz, Leonardo da Vincis Zeichnung eines Mannes, um dessen gespreizte Glieder sich ein Kreis spannte.
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