»Na?«, hatte Luke damals gesagt und seinen schweren Arm um Tasos Schulter gelegt. »Noch immer offline?« Mit breitem Grinsen hatte er sich seiner Frau zugewandt. »Taso gaukelt, hat einen niedrigeren Pred-Score als mein Opa!« Er lachte laut auf, und Taso stimmte mit ein, versuchte dabei, die Tonlage zwischen aufrichtig und zynisch schwanken zu lassen.
Luke steckte sich ein Lachsschnittchen in den Mund und nuschelte: »Und lebt von unseren Daten.«
Das hatten Taso schon viele Menschen vorgeworfen. Es fiel ihm deshalb nicht schwer, ausgiebig zu lächeln, als hätte Luke ihm ein Kompliment gemacht. »So sehe ich das nicht«, sagte er ruhig.
»Du bekommst doch ein Grundeinkommen, oder? Ohne unsere Daten könnte der Würfel Angebot und Nachfrage nicht mehr steuern und keine Grundeinkommen erwirtschaften – und wir würden Arbeitszeit und Ressourcen verschwenden.«
Seine unreflektierte Wiedergabe von Würfelpropaganda klang wie von der Konvohilfe abgelesen. Aber so einfach ließ sich Taso nicht provozieren. »Wir könnten auch so genug erwirtschaften, um gut zu leben, das hat früher ja auch geklappt.«
»Weil es da noch genug Arbeit gab!«, sagte Luke und wischte sich über den Mund.
»Gäbe es immer noch, wenn nicht immer alles so ultraeffizient sein müsste.«
Luke nahm ein weiteres Kanapee vom Büfett. Er hielt seiner Frau eine grün-grau bestrichene Weißbrotscheibe hin, sie schüttelte den Kopf. »Also ich habe jedenfalls keine Lust, länger zu arbeiten, nur damit Leute wie du …« Der Rest des Satzes verschwand in Kaugeräuschen.
Taso hatte sich wortlos selbst etwas zu essen genommen und war aus der Küche gegangen.
Soll ich dir alle Personen anzeigen, die du kennst? Taso aß die letzte Ecke Blätterteig und nickte. Seine SmEyes markierten neben den bereits gesichteten sechs weitere Personen. Er las in den angezeigten Profilen, wer sie waren und woher er sie kannte: Drei Kolleginnen von Roya waren darunter, eine weitere Kommilitonin von Peter und ein mit beiden befreundetes Paar, mit dem er offenbar auf der letzten Geburtstagsfeier ein paar Floskeln ausgetauscht hatte.
Keiner von ihnen würde sich gern mit ihm unterhalten.
Das war nicht immer so gewesen. Vor dem Referendum hatten Freunde und Bekannte seine Einstellung zum Datenschutz noch toleriert, ja sogar respektiert. Es hatte als angesagt gegolten, einen Totalverweigerer wie ihn auf Partys einzuladen. Mit der Zeit sahen sie ihn aber immer kritischer. Als er nach dem Referendum zu gaukeln begann, verdorrte sein Sozialleben rasch. Die Freundschafts-Apps der Kubisten errechneten geringe Chancen auf nachhaltige Beziehungen zu ihm, weil sie zu wenig Daten über ihn hatten. Kaum einer wollte bei ihren Treffen noch seine Smarts herausnehmen, weil es ihnen zu umständlich war und ihre Pred-Scores reduzierte. Außerdem belohnte der Würfel immer stärker den Kontakt zu Menschen, die einen hohen Score hatten, und zog Punkte ab, wenn man Gaukler und damit Chaos in sein Leben ließ. Wer dennoch zu ihm hielt, wurde von den anderen so lange mit Misstrauen und Unverständnis gestraft, bis auch er nachgab und den Kontakt zu Taso abbrach. So hatte er einen Freund nach dem anderen verloren, bis niemand mehr übrig geblieben war. Außer Tim.
Auch Fremde sprachen nicht gerne mit Taso. Ihre Konvohilfen warnten, dass sie wegen seines niedrigen Pred-Scores keine Gesprächsthemen empfehlen könnten. Die meisten suchten dann das Weite, denn wer hatte schon Lust auf steifen Small Talk, selbst erfundene Witze oder unangenehme Gesprächspausen, wenn er sich mit anderen sofort über per Konvohilfe eingeblendete Gemeinsamkeiten unterhalten konnte? Früher hatte Taso sich eingeredet, dass ihm all das nichts ausmache, dass es ein Opfer sei, das er zu bringen bereit war. Er hatte sich durch seine Gaukelei stark und unabhängig, im Grunde auch überlegen gefühlt. Aber inzwischen war sein selbstbewusster Auftritt nur noch Fassade. Wenn er in seiner oft lachhaften Kleidungskombination inmitten erfolgreicher, geslifteter Rhetorikgenies stand, die mit ihm höchstens über den täuschend echten Geschmack ihres Kunsthähnchenspießes oder die eindrücklichen Farben der Wandinstallationen sprechen konnten, wollte er allem am liebsten den Rücken kehren, um zurück in seiner Wohnung seine Smarts herauszureißen und laut in ein Kissen zu schreien. Er wollte schon gar keine neuen Menschen mehr kennenlernen. Früher hatte er in Windeseile Bande zu anderen geknüpft und sogar Spaß daran gehabt, aber nun machte ihn jede Kontaktaufnahme nervös. Er hatte Angst, dass seine Themen nicht spannend genug waren, seine Witze nicht lustig oder seine Äußerungen deplatziert. Und seit einer Weile bohrte sich eine Frage immer tiefer in seinen Kopf: Wie wäre es wohl, wieder dazuzugehören? Wieder unbeschwert mit seinen alten Freunden reden und lachen zu können, wieder gerne auf ihre Partys zu gehen und vor allem, dazu eingeladen zu werden?
Zugleich schämte er sich für solche Gedanken. Er hatte sich nicht ohne Grund für dieses Leben, für ein selbstbestimmtes Leben entschieden. Er wollte dazugehören, ja – aber auf keinen Fall wollte er nachgeben und so berechenbar und fremdgesteuert werden wie die anderen. Außerdem war er mit seinen Überzeugungen nicht allein. Er überprüfte seinen E-Mail-Eingang. Wieder nichts.
Er war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, als Roya nach ihm rief. Mit geröteten Wangen kam sie auf ihn zu, dicht gefolgt von einem unsicher lächelnden Mittdreißiger. Der Mann hatte schütteres Haar und schiefe Schneidezähne. Ein selten natürlicher Anblick. »Taso, ich möchte dir Fritz vorstellen. Seine Tochter Lin ist eine Freundin von Lisa. Vielleicht wollt ihr euch ein bisschen unterhalten.« Sie lächelte zufrieden und rauschte davon.
»Glückwunsch«, sagte Fritz. Er hielt kurz sein Sektglas hoch und trat zögerlich einen Schritt näher.
»Danke«, antwortete Taso. »Offliner?« Es konnte nur einen Grund geben, weshalb Roya sie zusammengeführt hatte: Auf jeder Party gab es mindestens zwei Offliner. Die Gastgeber sorgten stets dafür, dass sie sich fanden.
Fritz wirkte überrascht. »Ja, aber eher unfreiwillig. Ich hab die letzten zehn Jahre in Afrika gelebt und bin mit meiner Tochter erst vor zwei Wochen wieder nach Deutschland zurückgekommen.«
Taso horchte auf. Das Gespräch versprach interessanter zu werden, als er gedacht hatte. »Wo habt ihr gelebt?«
»Simbabwe.«
Taso überlegte. »Ist das nicht unter harmonistischer Kontrolle?«
»Ja.«
Taso konnte nicht anders, als die Stirn zu runzeln. Wenn er irgendetwas noch weniger mochte als den Kubismus, war es der Harmonismus. Der Würfel belohnte zwar Vorhersehbarkeit, was Taso rundheraus ablehnte – aber immerhin schrieb er niemandem vor, wie er sich zu verhalten hatte. Man konnte vor dem Würfel ein egoistischer Vollidiot sein, Hauptsache, man war konsequent darin. Xi hingegen, sein harmonistisches Pendant, erzwang Vorhersehbarkeit, indem es mit Permasmarts die Einhaltung langer Verhaltenskataloge kontrollierte, die die Kommunistische Partei Chinas verfasste. Jeder Bewohner eines harmonistischen Staats startete mit einem »Sozialkredit« von eintausend, der bei Wohlverhalten stieg, bei Verstößen sank. Der Gedanke an diese extreme Form der Fremdbestimmung änderte manchmal sogar Tasos Blick auf den Kubismus. Wenn auch nur kurz.
Fritz bemerkte Tasos Unbehagen sofort: »Ich bin aber kein Harmonist«, beteuerte er. »Im Gegenteil – das System ist mir völlig zuwider! Ich hab etliche Bekannte, die Job, Freunde und sogar ihre Freiheit verloren, weil sie sich nicht konform verhalten haben. Das geht unheimlich schnell: Für jeden Pups gibt es Punktabzug, also bildlich gesprochen.« Fritz lachte kurz auf und beeilte sich weiterzureden, als Taso keine Reaktion zeigte. »China behauptet zwar immer, dass jedes Partnerland selbst definiert, welches Verhalten es belohnt oder bestraft, aber natürlich machen sie als Erfinder des Sozialkredits ihren ›Partnern‹ ununterbrochen ›Vorschläge‹. Also verliert auch in Simbabwe jeder, der China kritisiert, sofort zwischen 15 und 75 Punkten. Da rutscht man schnell mal unter 600. Und dann wirds ernst.«
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