»Alles Gute zum Geburtstag, Brüderchen!«, rief eine vertraute Stimme hinter ihm. Taso fuhr herum. Ein etwas aufdringlicher Herrenduft und ein Hauch Alkohol streiften seine Nase. Peters Anblick erinnerte ihn immer daran, wie gut auch er aussehen könnte, wenn er sich nur modisch kleiden und ein wenig sliften würde. Peters perfekt sitzende Bluejeans passte hervorragend zu dem anthrazitfarbenen Hemd, dessen Ärmel er lässig umgeschlagen hatte, sodass man das rot gepunktete Innenfutter sah. Er hatte seine Figur sportlicher gesliftet, auch seine kurzen dunklen Haare wirkten voller als in Wirklichkeit, nur das Gesicht war unverändert. In gleicher Kleidung und ohne Slifting sähen sich die beiden so ähnlich, dass man sie nur an der Haarlänge unterscheiden könnte.
»Dir auch«, sagte Taso, und sie umarmten sich – wie immer eine Sekunde länger und ein Newton kräftiger als zwischen Brüdern üblich. Und wie jedes Mal blitzte in Tasos Kopf die Erinnerung daran auf, wie ihre Mutter sie an ihrem sechsten Geburtstag aufgefordert hatte, sich mit einer Umarmung gegenseitig zu gratulieren. Er hatte es erst komisch gefunden, aber das Wohlgefühl, das ihn damals ergriffen hatte, die Wärme und Vertrautheit, überwältigten ihn noch heute bei jeder Umarmung seines Bruders, ganz gleich wie sie gerade zueinander standen.
Sie lösten sich voneinander. Das Gefühl verschwand.
»Welch eine Ehre«, spottete Peter. »Passiert ja nicht jeden Tag, dass ein waschechter Staatsfeind zu Besuch kommt!« Taso erwiderte nichts, woraufhin Peter ihm lachend auf die Schulter klopfte. Roya sah ihren Mann vorwurfsvoll an und wandte sich anderen Gästen zu.
Taso konnte nicht behaupten, dass ihm Peters Kommentare nichts ausmachten, aber er hatte sich damit längst abgefunden. Er zog das kugelförmige Päckchen aus der Hosentasche und reichte es Peter, der ihn irritiert ansah. »Wir schenken uns doch nichts.«
Taso zuckte mit den Schultern. Sein Bruder löste die Schleife und packte einen roten Ball aus, dessen Hälften er so gegeneinander verschob, dass sie sich öffneten. Aus der unteren Ballhälfte nahm er einen kleinen Würfel, der auf drei Seiten schwarz schimmerte, auf den drei anderen weiß.
Peter wendete ihn in den Fingern und strich über die harten Kanten und die seidenweichen Oberflächen. Taso freute sich, dass sein Bruder zumindest für einen Moment fasziniert war. Ob er an ihre alte Würfelsammlung zurückdachte? Plötzlich verhärtete sich Peters Blick, und er steckte den Würfel in die Hosentasche.
»Danke«, murmelte er und sah Taso flüchtig an. Für einen Moment standen sie wortlos voreinander. Taso hätte Peter gern erzählt, dass der Würfel über hundert Jahre alt war, zu einem chinesischen Glücksspiel gehörte und einem früheren Eigentümer ein Vermögen beschert hatte. Stattdessen wechselte er zum erstbesten Standardthema. »Wie läufts bei der Arbeit?«
»Alles wie immer.«
»Ihr habt da was Neues entwickelt – Crazindi oder so? Hat mir eure App neulich empfohlen.«
»Ja, genau.«
Peter sprach nicht gern über seine Arbeit. Seine Programmiererei sei geheim, hatte er mal gesagt. Taso wusste nur, dass sein Bruder Storytelling-Algorithmen für ein Unternehmen schrieb, das individuelle Filme produzierte. Der größte Teil der Unterhaltungsindustrie bestand mittlerweile aus Filmen, Serien, Büchern, Musik oder Spielen des Indi-Genres. Peters Algorithmen erfanden spontan Geschichten – spannende, lustige, romantische, fantastische –, die weitere Algorithmen dann über die Smarts der Konsumenten sofort zum Leben erweckten. Fotorealistisch animiert entsprachen sie ganz der Vorliebe und Stimmung der Nutzer. Die Figuren glichen meist einst beliebten Schauspielern, um den Simulationen die Illusion echter Filme zu verleihen. So konnte jeder stets genau das sehen, hören, lesen, spielen, wonach ihm der Sinn stand, ohne selbst auswählen zu müssen. Auch Taso konsumierte Indi-Unterhaltung. Es war eine nervtötende, aber einfache Methode, den Würfel mit falschem Feedback über den eigenen Geschmack zu täuschen.
Taso blieb hartnäckig. »Crazindi – das sind Indi-Filme mit Logikfehlern, oder?« Peter deutete ein Nicken an. »Aber werbt ihr nicht mit Storys ohne Logikfehler?«
Peter zögerte einen Moment. »Natürlich sind logische Storys unsere größte Leistung. Aber das hat Indi-Filme auch stark eingeschränkt: Lässt man Logikfehler zu, kann man viel verrücktere Geschichten erzählen. Viele mögen das.«
Taso grinste. »Könnten dann nicht einfach wieder Menschen Filme machen?«
Peter winkte ab. »Viel zu teuer. Aber wie läufts bei dir denn so?«
Bevor Taso antworten konnte, kamen Yasin und Lisa auf ihn zugestürmt. Sein Neffe und seine Nichte trugen Piratenkostüme mit sperrigen Hüten und Augenklappen und grinsten über das ganze Gesicht. Der sechsjährige Yasin baute sich stramm wie ein Soldat vor Taso auf und rief viel zu laut: »Guten Tag, der Herr!« Er hatte die dunklen Locken seiner Mutter, die ungebändigt unter seinem Hut hervorsprangen.
»Guten Tag, Herr Ponykuchen!«, antwortete Taso mit tiefer Stimme. Yasin kniff die Augen zusammen und kicherte. Taso begrüßte die beiden stets mit wechselnden Fantasienamen, eines der wenigen öffentlichen Rituale, die er sich gönnte.
Lisa versuchte die Haltung ihres drei Jahre älteren Bruders zu imitieren. Mit ihrer Stupsnase und den riesigen schwarzen Augen sah sie noch niedlicher aus als er. »Guten Tag, der Herr!«
»Guten Tag, Frau Dackeltorte!«, antwortete Taso. Beide Kinder prusteten los und umarmten ihn.
Taso liebte die kindliche Freude und Unbeschwertheit der beiden, auch wenn er sie nie wirklich teilen konnte. Warum auch sie ihn so mochten, konnte er sich nicht erklären: Er begegnete ihnen meist kühl und distanziert, hatte wenig Verständnis für ihre digitalen Spiele, und reich beschenken konnte er sie auch nicht. Disziplinierter Gaukler, der er war, blickte er immer ungerührt drein, wenn sie ihn anlächelten. Vielleicht genügten aber seine Begrüßungen und die darauffolgenden festen Umarmungen, um ihnen seine wahren Gefühle zu vermitteln.
Als er sich wieder aufrichtete, zogen die Kinder weiter. Peter war bereits in ein Gespräch mit drei Unbekannten verwickelt. Tasos SmEyes zeigten neben ihren Köpfen in kleinen Blasen ihre öffentlichen Profile an, aber statt sie zu lesen, folgte er seinem Hunger in die Küche. Auf großen Platten mit Holzoptik lagen unzählige Häppchen, eins verlockender als das andere. Er war allein und wusste, dass hier keine Kameras hingen. Er schloss die Augen, beugte sich über die verschiedenen Platten und roch ausgiebig an dem karamellisierten Kunsthuhn mit Mandeln, dem Krabbencocktail mit gehäuteten Mandarinenstückchen und dem Linsensalat mit Minze und Basilikum.
Selbst mit verdeckten SmEyes könnte er keines der leckeren Häppchen essen, ohne dass der Würfel es erführe. Der letzte Besucher der Küche hatte das Essen sicher gesehen, auch der nächste würde SmEyes tragen, sodass der Würfel Taso jedes fehlende Gramm zuordnen könnte. Er öffnete die Augen, nahm sich schweren Herzens nur eins der Gläschen mit dem Krabbencocktail, legte sich zwei Blätterteigküchlein mit Fenchel auf einen Teller – er hasste Fenchel – und ging ins Wohnzimmer.
Betont genüsslich kaute er auf dem scheußlichen Gemüse herum und suchte nach vertrauten Gesichtern. Auf der anderen Seite des Zimmers erkannte er drei Männer, die er vor einiger Zeit als Peters Studienfreunde kennengelernt hatte. Kollegen seines Bruders schienen keine da zu sein, wie schon im letzten Jahr. Peter hatte offenbar wenig Kontakt, wenn er im stillen Kämmerlein seine ach so geheimen Codes schrieb.
Von der Terrasse hörte Taso das Maschinengewehrlachen seines ehemaligen Schulfreundes Luke herüberschallen. Wahrscheinlich stand er mit seiner mausgesichtigen Frau Vanessa zusammen, umringt von irgendwelchen Langweilern, und gab peinliche Heldengeschichten zum Besten, während er sich ein Bier nach dem anderen in den Rachen kippte. Dass Peter immer noch mit ihm befreundet war, wollte Taso nicht in den Kopf. Er selbst hatte vor genau einem Jahr das letzte Mal mit Luke gesprochen und auf Lebzeiten keinen Bedarf an einer Fortsetzung.
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