Taso freute sich über die kritischen Worte. »Aber warum bist du dann dorthin gezogen?«
»Ausländer aus nicht harmonistischen Staaten genießen Privilegien, dafür haben die Chinesen ebenfalls gesorgt.« Fritz schüttelte den Kopf. »Ist Teil ihrer Expansionsstrategie. Vor allem aber stammte meine Frau aus Simbabwe. Sie wollte nach dem Studium dorthin zurück, und ich bin mit.« Sein Blick wurde leer, er sprach nicht weiter.
Taso wechselte das Thema: »Und mit dem Pred-Score des Würfels hast du kein Problem?«
Fritz zuckte mit den Schultern. »Immerhin schreibt mir hier niemand vor, was ich zu sagen und zu tun habe. Und der Kubismus ist demokratisch.«
»Na ja … es gibt zwar noch ein Parlament, aber keine Wahlen mehr.«
»Aber dafür ernennt der Würfel Abgeordnete, die unsere Gesellschaft widerspiegeln.«
»Und zementiert so bestehende Verhältnisse. Ohne Wahlen kämpft niemand mehr für neue Ideen. Und unabhängig sind die Damen und Herren Volksvertreter auch nicht, denn ohne den Segen des Würfels trifft sowieso niemand mehr Entscheidungen.«
Fritz trat von einem Fuß auf den anderen. »Wie ist es denn bei dir? Du bist ein Gaukler, oder?«
Taso blickte spöttisch an sich herab, ohne etwas zu sagen.
»Das heißt, du lügst immer?«
Die direkte Frage überraschte ihn. »So würde ich es nicht sagen … Ich täusche! Mal entspricht mein Verhalten meiner Einstellung, aber oft eben auch nicht.«
Fritz nickte und blickte zu Peter, der es sich gerade mit Luke auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. »Aber dein Bruder …«
»… ist überzeugter Kubist, ja.« Und bevor die Nachfrage kam, ergänzte Taso etwas leiser: »Das war nicht immer so. Früher war er genauso kritisch wie ich.«
»Und eure Eltern?«
Diesmal war es Taso, der keine Lust hatte, seine Familiengeschichte zu erzählen. Er sah zu Peter hinüber, der sein Cocktailglas klirrend gegen Lukes Bierflasche stieß. Er erinnerte sich noch gut an die manchmal interessierten, meist aber irritierten Blicke von Schulfreunden, die früher bei Familie Doff zu Besuch gewesen waren. Tasos Eltern hatten sie stets gebeten, ihre Smartphones und Datenbrillen in einen Safe zu legen, der erst am Ende des Besuchs wieder geöffnet wurde. War die Familie draußen unterwegs gewesen, hatte sie große Hüte mit Schleiern gegen die Videokameras getragen, später auch Masken und Sonnenbrillen. Taso hatte sich oft gefragt, warum die anderen Kinder sie nicht schon damals komplett gemieden hatten. Vielleicht, so erklärte er es sich später, weil Peter und er unzertrennlich gewesen waren: immer zu zweit, immer doppelt so stark, lustig und selbstbewusst wie die anderen. Vielleicht hatte ihm fremder Spott deswegen so wenig ausgemacht. Er hatte seinen besten Freund immer bei sich gehabt, egal, wohin sie reisten, weil sein bester Freund sein Bruder gewesen war. Und sie waren häufig verreist. Schon als junger Journalist hatte ihr Vater viel Zeit im Ausland verbracht und nahm später die Brüder oft mit, während ihre Mutter in Deutschland ein Architekturbüro aufbaute. Halb Europa hatten sie gesehen, bevor ihr Vater seinen Job an Algorithmen verloren hatte und sie kürzertreten mussten. Aber auch das hatte die Familie, die nun immerhin mehr Zeit füreinander hatte, eher zusammengeschweißt als entzweit.
Bis Luke in ihre Klasse kam. Peter war auf einmal wie verwandelt, hing an dem Labersack wie ein Hund an seinem Herrchen. Was immer Luke ausheckte, Peter wollte dabei sein. Heimlich kaufte er sich eine Datenbrille und schlich abends zu Luke und seinen anderen neuen Freunden in den Wald, um dort Krieg zu spielen. Gemeinsam testeten sie die Anmachsprüche einer Dating-App an den Mädchen der höheren Klassen und schmiedeten Pläne für eine Weltreise nach dem Abitur. Lange redete Taso sich ein, dass ihm Peters Luke-Verehrung egal war. Aber als sich sein Bruder auf Lukes Drängen an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Soulbookaccount einrichtete, platzte etwas in Taso, und er verpetzte ihn bei ihren Eltern, die von Peters Abtrünnigkeit bislang nichts mitbekommen hatten. Es war fast zehn Jahre her, aber Taso erinnerte sich noch genau an den Streit, der folgte. Ihre Eltern fielen aus allen Wolken, es gab Geschrei und Tränen, Türen knallten und Bande rissen. Ein paar Wochen später zog Peter aus. Ihr Vater schloss sich aus lauter Hilflosigkeit in seinem alten Arbeitszimmer ein und verabschiedete sich nicht einmal von ihm, während ihre Mutter unentwegt auf Peter einredete, der von einer Ecke seines Zimmers in die nächste eilte und seine Habseligkeiten zusammensuchte. Taso hatte teilnahmslos herumgesessen, unfähig zu begreifen, was vor sich ging, und voller Schuldgefühle.
Er verstand bis heute nicht, wie Peter sich vom Rest der Familie so hatte entfernen können – und das noch vor dem Referendum, als es weder Offliner noch Kubisten gab. So konnte Taso es nicht einmal auf den Würfel schieben.
Er sah wieder zu Fritz und brauchte einen Moment, um sich an dessen Frage zu erinnern. »Unsere Eltern leben in Humaning.«
Fritz sah ihn fragend an.
»Einer Würfelfreien Zone auf dem Land.«
Als Fritz ihn nur weiter mit großen Augen ansah, fuhr Taso fort: »In den letzten Jahren sind viele Offliner in WfZs auf dem Land gezogen, Humanisten wie unsere Eltern, aber auch sogenannte Religs, die den Würfel aus religiösen Gründen ablehnen. Die Radikalsten unter ihnen nennen wir Namische, Neue Amische.«
»Von den Namischen hab ich schon gehört.« Fritz nippte mit abwesendem Blick an seinem Sektglas. Taso vermutete, dass ihm seine Smarts eine etwas längere Beschreibung von WfZs eingespielt hatten. »Wie viele Offliner gibt es denn noch?«, fragte er nach einer Weile.
Taso überlegte. »Ich glaube, es haben noch etwa sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung einen Pred-Score von unter 50. Ich weiß aber nicht, wie viele ihn aus Überzeugung dort halten.«
»Fritz!«, unterbrach sie Peter vom Sofa und kam leicht schwankend zu ihnen herüber. »Unterhalt dich bloß nicht zu lang mit dem, sonst steigt dein Pred-Score nie!« Er lachte und sah mit glasigen Augen von einem zum anderen. Es versetzte Taso einen Stich, dass Peter ausgerechnet heute noch angriffslustiger als sonst war.
»Schon okay, hier komme ich dafür ja nicht gleich ins Gefängnis«, sagte Fritz lächelnd.
»Das ist gar nicht okay!« Peter ließ ein Rülpsen in der Faust verschwinden. »Tasos Gaukelei kostet meine Kinder verdammt viele Preds – von mir selbst ganz zu schweigen!« Er wusste, dass sich Taso nicht öffentlich provozieren ließ. Trotzdem versuchte er es ständig. Taso spürte heiße Wut in sich aufsteigen, Wut, die nicht ausbrechen durfte. »Heute musste er schon wieder zur Polizei! Das war das vierte Mal dieses Jahr, oder?«
Taso antwortete nicht. Peter warf die Arme in die Luft. »Ein Wiederholungsgefährder! Mein eigener Bruder!«
Taso widerstand dem Impuls, eine Hand zur Faust zu ballen. Die umstehenden Gäste sahen zu ihnen herüber. Fritz fühlte sich sichtlich unwohl. »Hast du die Kinder gesehen?«, fragte er mit suchendem Blick, aber Peter ignorierte ihn.
»Ich musste Taso sogar mal aus dem Gefängnis abholen!«
»Nach einer Demo«, sagte Taso so ruhig wie möglich.
»Peter!« Roya war offenbar von ihrer Gastgeber-App alarmiert worden. Sie ergriff sachte den Oberarm ihres Mannes. Als Peter seinen harten Blick nicht von Taso löste, wiederholte sie noch bestimmter: »Peter!« Er drehte sich zu ihr. »Gehst du mal bitte zu Thomas und Jasmin auf die hintere Terrasse? Die haben nach dir gefragt.«
Peter stand einen Moment unentschieden herum, bevor er sich abwandte und davonging. Auf dem Weg zur Terrasse holte er sein Cocktailglas vom Couchtisch und nahm einen ausgiebigen Schluck.
Taso entspannte sich etwas, Fritz atmete hörbar aus. »Ich schaue mal nach Lin«, murmelte er und verschwand ebenfalls.
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