»Ich denke schon«, erwiderte Julie mutig. »Zum Iditarod hat es bisher noch nicht gereicht, aber ich komme zurecht.« Sie holte tief Luft. »Ich bin bereit.«
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Carol.
4
»Heya! Lauft, ihr Lieben!« Julie hielt ihr Gesicht in den eisigen Fahrtwind und genoss die rasante Fahrt über die feste Schneedecke der Park Road. »Hier könnt ihr euch mal richtig austoben! Bleib an Carol dran, Chuck! Lass dich nicht abhängen! So gut wie Skipper bist du schon lange! Vorwärts, Chuck!«
Julie fuhr im Windschatten von Carol, die Knie leicht angewinkelt, um Schneeverwehungen oder Bodenwellen besser abfedern zu können. Auf dem festen Schnee und in der Gewissheit, keinen Gegenverkehr zu haben, machte das Fahren besonders großen Spaß. Ihre Hunde freuten sich, nach der unbequemen Fahrt auf dem Pick-up wieder laufen zu können, und hetzten in weiten Sprüngen über den Schnee, legten es manchmal sogar darauf an, das andere Gespann zu überholen und ließen sich nur widerwillig wieder zurückfallen.
Von Carol konnte sich Julie einiges abschauen. Die Rangerin fuhr noch ruhiger und gleichmäßiger als sie und stand so locker auf den Kufen , als steuerte sie den Schlitten über festes Eis. Scheinbar ohne Anstrengung meisterte sie jedes Hindernis, und ihre Befehle waren so kurz und knapp, dass sich Julie jedes Mal wunderte, wie schnell ihre Huskys reagierten. Besonders Skipper, ihr Leithund, war ein intelligenter Bursche, der auch Chuck noch einiges an Kraft und Schnelligkeit vorauszuhaben schien. Rowdy benahm sich öfter mal daneben, bellte wütend nach vorn oder drehte sich vorwurfsvoll zu den anderen Huskys um, gehorchte aber schnell, wenn Carol mahnend seinen Namen rief. So routiniert und gelassen verhielt sich nur eine erfahrene Musherin, die mehrmals an großen Hundeschlittenrennen teilgenommen hatte.
Wie fast jede junge Musherin hatte auch Julie schon darüber nachgedacht, am Iditarod teilzunehmen, den Gedanken aber gleich wieder verworfen. Nicht, weil ihre Huskys den Anforderungen dieses harten Rennens nicht gewachsen wären. Chuck war ein erfahrener Leithund, der sich selten aus der Ruhe bringen ließ. Bronco lief neben ihm und war so kräftig, dass er den Schlitten auch allein gezogen hätte. Curly benahm sich manchmal wie ein ungezogener Junge, schaffte es aber auch, die anderen Huskys aufzumuntern, wenn es mal nicht so lief. Apache war trotz seiner Jugend schon sehr erfahren und würde Chuck einmal als Leithund ablösen. Blacky und Nanuk, die beide direkt vor dem Schlitten liefen, brachten Kraft, Ruhe und Ausdauer mit. Ein erfahrenes Gespann, auf das man sich verlassen konnte und das auch den hohen Anforderungen der Park Ranger in einem Nationalpark gewachsen war.
An einem Aussichtspunkt am östlichen Ufer des Jenny Creek hielt Carol ihr Gespann an. Julie lenkte ihren Schlitten neben sie. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und der helle Streifen am östlichen Horizont überzog das verschneite Land mit rötlichem Licht, das selbst die eisigen Hänge im Norden einladend aussehen ließ. Feiner Nebel hing über den zugefrorenen Flüssen und stieg bis in die Ausläufer des mächtigen Mount McKinley empor, der wie ein gewaltiges Monument aus dem Land ragte und alle anderen Berge der Alaska Range um ein Vielfaches überragte. Majestätisch thronte er über den verschneiten Tälern. Sein Gipfel, nur für Sekunden sichtbar, verschwand sofort wieder hinter den dichten Wolken, die sich im Norden zusammengeballt hatten, doch selbst jetzt ahnte man noch seine majestätische Größe. Ein Berg, wie es ihn nicht einmal im Himalaya gab, rauer und abweisender, für viele Betrachter aber auch faszinierender als der Mount Everest.
»Ist das nicht ein toller Anblick?«, fragte Carol. »Wenn man den Gipfel nicht sehen kann, finde ich den Berg noch beeindruckender und geheimnisvoller. Deshalb habe ich mich um eine Stelle im Denali National Park beworben. Ich halte jedes Mal hier, obwohl ich schon seit ein paar Jahren hier arbeite.«
»Und wo warst du vorher?«
»Yosemite«, antwortete die Rangerin, »unten in Kalifornien. Auch so ein Park, der sich vor Bewerbungen nicht retten kann, aber ich habe mich dort nie so richtig wohlgefühlt. Kalifornien ist nichts für mich. Ich bin in Alaska aufgewachsen und würde dieses Land für kein Geld der Welt eintauschen. Als die Stelle im Denali frei wurde, habe ich mich sofort beworben.« Sie lächelte zufrieden. »Meine Vorfahren stammen aus Deutschland, da gibt es überhaupt keine Berge, jedenfalls keine so hohen wie hier. Sie kamen während des Goldrausches am Klondike. Reich wurden sie nicht, aber das Land muss sie so fasziniert haben, dass sie hierblieben und einen Laden in Willow eröffneten. Ich bin in der Wildnis aufgewachsen, hier draußen fühle ich mich wohl.«
»Mir geht es ähnlich«, stimmte Julie ihr zu. »Ich könnte nie in einer Stadt wie New York oder Los Angeles leben. Wir kommen aus Montana. Mein Vater war Chirurg an einem Krankenhaus in Billings, da lernte er auch meine Mutter kennen, die ebenfalls dort arbeitete. Doch als das neue Krankenhaus in Fairbanks gebaut und meinem Vater der Posten als Chefarzt angeboten wurde, zogen wir nach Alaska. Ich war damals zwölf. Das Beste, was mir passieren konnte, denn Huskys hatten es mir schon in Montana angetan, und ich nahm sogar an einem Rennen teil. Ich wurde Zweite. Auf einem Hundeschlitten fühle ich mich am wohlsten, deshalb habe ich mich auch für das Winterhalbjahr gemeldet. Es ist einfach wunderbar hier … wie in einem Märchen.«
Sie fuhren auf die Park Road zurück und ließen ihren Huskys, die schon ungeduldig geworden waren, wieder freien Lauf. Im fahlen Licht des beginnenden Tages steuerten sie ihre Schlitten über die verschneite Straße, vorbei an weit ausladenden Fichten, deren Zweige unter dem Gewicht des Schnees weit nach unten hingen. Außer dem Scharren der Schlittenkufen war kaum ein Laut zu hören, nur manchmal drang das Krächzen eines Raben aus dem Wald. Ein Schneehase huschte durch den hellen Bodennebel ins Unterholz.
Am Savage River lenkte Carol ihr Gespann zu einer Blockhütte, die zwischen den Bäumen kaum zu sehen war. Sie sicherte ihren Schlitten, begrüßte einen älteren und lahmenden Husky, der neben der Hütte im Schnee lag und dankbar winselte, als Carol ihm das Fell kraulte, und verschwand in der Hütte. Mit einem Eimer Hundefutter kehrte sie zurück. »Candy hat sich vor einem Jahr den rechten Vorderlauf gebrochen und kommt seitdem nicht mehr auf die Beine.« Sie füllte den Trog des Huskys, stellte den leeren Eimer ab und stieg auf ihren Schlitten. »Shorty sorgt dafür, dass es ihm gut geht.«
»Shorty?«
»Paul Short«, erklärte Carol, »einer unserer Ranger. Alle nennen ihn Shorty, obwohl er der zweitgrößte Ranger im Park ist.« Sie zog lachend den Anker aus dem Schnee. »Er hält die Stellung am Savage River und fährt jede Woche einmal zum Wonder Lake und nimmt dort am ›Projekt Vielfraß‹ teil. Einige Ranger beschäftigen sich mit dem Jagdverhalten dieser Tiere. Du lernst ihn sicher bald kennen. Ein wortkarger Bursche, der am liebsten allein ist, deshalb hat er sich auch freiwillig für den Savage River gemeldet.« Sie lachte wieder. »Woher sollte er auch wissen, dass er so bald Gesellschaft bekommt.«
Julie zog fragend die Augenbrauen hoch, bekam aber schon bald eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Auf dem Campingplatz am Flussufer erhob sich ein orangefarbenes Zelt. Ein Mann und eine Frau hielten sich vor dem Zelt auf und waren gerade dabei, sich Schneeschuhe anzuschnallen.
»Mike und Ruth Linaker, nehme ich an«, sagte Carol, als sie vor dem Zelt hielten. »Ranger Carol Schneider und Julie Wilson. Alles okay bei Ihnen?«
»Alles okay«, bestätigte der Mann, ein drahtiger Naturbursche mit gebräuntem Gesicht und gewinnendem Lächeln. Beide waren um die dreißig, wirkten sehr sportlich und durchtrainiert und schienen daran gewöhnt zu sein, mitten im Winter bei arktischen Temperaturen in einem Zelt zu übernachten. »Wir üben gerade ein wenig für die Schneeschuhwanderung. Normalerweise sind wir auf Skiern unterwegs.«
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