1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 »Mein Fuß!«, jammerte der Junge, der versucht hatte, zur Straße zu entkommen. »Ich hab mir den Fuß verletzt! Helfen Sie mir! Ich glaube, er ist gebrochen!« Er versuchte sich zu bewegen und sank sofort wieder zurück. »Verdammt, tut das weh! Sie müssen mir helfen, Ranger! Er ist gebrochen!«
Carol hielt den Schlitten an und untersuchte den Fuß des Jungen. »Du hast Glück gehabt, er ist nur verstaucht. Hättet ihr die Vorschriften beachtet, wäre das nicht passiert. Ihr wisst doch, dass ihr im Nationalpark nicht fahren dürft, oder könnt ihr nicht lesen? Wundern würde es mich nicht.« Sie zog den Jungen zum Schlitten und ließ seine Arme los. »Mach’s dir auf der Ladefläche bequem. Die Snowmobile holen wir später. Wenn eure Eltern kommen.«
»Unsere Eltern?«, riefen beide Jungen gleichzeitig.
»Eure Eltern«, bestätigte Carol ungerührt. »Und ich bin sicher, sie werden nicht gerade erfreut sein, wenn sie hören, was ihre Söhne angestellt haben. Ihr seid euch doch darüber im Klaren, dass euer Vergehen eine heftige Geldstrafe nach sich ziehen wird. Ihr fahrt schließlich nicht zum ersten Mal hier herum.«
»Eine Geldstrafe? Aber wir haben kein Geld!«
»Dann werden es eure Eltern wohl auslegen müssen. Ihr könnt sicher in den Ferien irgendwo arbeiten und genug verdienen, um es zurückzuzahlen.«
»Verdammter Mist!«
»Fluchen hilft euch jetzt auch nicht weiter. Auf den Schlitten!«
Julie war erstaunt, wie rigoros ihre ältere Kollegin gegen die Jugendlichen vorging und wie wenig sie Gnade vor Recht ergehen ließ. Aber vielleicht wollte sie ihnen auch nur ein wenig Angst einjagen, um sie für ihre Dummheit büßen zu lassen. Verdient hatten es die Jungen. Mit ihren lauten Snowmobilen erschreckten sie die wilden Tiere und brachten sich unnötig selbst in Gefahr. Der Sturz hätte ihnen eigentlich zeigen müssen, wie gefährlich es war, allein durch den Park zu fahren, wenn man sich dort nicht auskannte.
Sie hatte inzwischen den anderen Jungen unter seinem Snowmobil hervorgezogen und zu ihrem Schlitten geführt. Er war glücklicherweise unverletzt. Mit schuldbewusster Miene setzte er sich auf die Ladefläche. »Muss das sein, dass Sie unsere Eltern holen?«, jammerte er. »Lassen Sie uns laufen … bitte!«
Julie wusste nicht, was sie antworten sollte, und Carol reagierte gar nicht. Stattdessen zog sie ihr Funkgerät aus der Tasche und rief die Zentrale: »Zentrale, hier Schneider. Wir haben die beiden Jugendlichen gefunden …«
Die beiden Jungen sagten gar nichts mehr.
5
Während der folgenden Tage arbeitete Julie vor allem mit den Huskys. Nach der Fütterung eines »Hundesüppchens« am frühen Morgen, für das wenig Trockenfutter mit viel Wasser vermischt wurde, unternahmen Carol und sie mehrere Patrouillenfahrten in die Wildnis. Erst nach den Ausflügen bekamen die Huskys ihre tägliche Futterration, die ebenfalls mit Wasser vermischt wurde, damit die Hunde die nötige Flüssigkeit aufnahmen. Bei den hohen Anforderungen, die an die Huskys gestellt wurden, mussten die Ranger sehr genau auf die richtige Ernährung und Pflege achten. Ihre Touren führten sie quer durch den Nationalpark, über die geräumte Park Road und durch den Tiefschnee abseits der Straße, um den Hunden die nötige Bewegung zu verschaffen und Julie darauf vorzubereiten, was bei einem Einsatz von ihr verlangt werden könnte. »Letzten Winter haben wir drei Tage nach einem verschwundenen Wanderer gesucht«, berichtete Carol. »Das Wetter war so schlecht, dass der Hubschrauber nicht starten konnte, und ich musste mich mehrere Stunden durch den Tiefschnee kämpfen, bis ich ihn endlich gefunden hatte. Er hatte sich das Bein gebrochen und konnte von Glück sagen, dass er überlebt hat.«
Am zweiten Tag wechselten sie die Gespanne, und Julie machte sich mit Skipper und den anderen Hunden des Parks vertraut. Schon beim Verteilen des Hundesüppchens redete Julie lange mit Skipper, gewöhnte den eher zurückhaltenden Leithund an ihre Stimme und ihren Geruch und kraulte ihn freundschaftlich zwischen den Ohren, wie sie es mit Chuck immer tat. »Wir haben jetzt öfter miteinander zu tun«, sagte sie. »Ich weiß, du hast dich an Carol gewöhnt. Ihr beide versteht euch und seid ein eingespieltes Team … und außerdem ist sie eine erstklassige Musherin. Aber wir beide kommen sicher auch miteinander aus. Enttäusch mich nicht, Skipper, hörst du?« Sie kraulte ihn noch mal, griff ihm unters Kinn und blickte ihm in die Augen. »Und pass mir auf Rowdy auf. Den dürfen wir nicht an der langen Leine laufen lassen.«
Schon nach wenigen Meilen erkannte Julie, dass sie auch mit dem anderen Gespann zurechtkommen würde. Skipper reagierte ähnlich schnell wie Chuck, schien die meisten ihrer Befehle sogar im Voraus zu erahnen und ließ sich auch durch Rowdy nicht aus der Ruhe bringen. Sobald der junge Husky aus dem Gespann ausscheren wollte oder sich ablenken ließ, brachte er ihn mit einem heftigen Knurren oder allein durch seine Körpersprache zur Vernunft. »Skipper ist in Ordnung!«, rief sie Carol zu. »Kein Wunder, dass du beim Iditarod so gut abgeschnitten hast. Oder war er damals gar nicht dabei?«
Carol fuhr direkt hinter ihr. »Beim Iditarod war Timber mein Leithund. Stark wie ein Wolf, wendig wie ein Luchs. So stand es damals in der Zeitung. Wenn einer meiner anderen Hunde nicht krank geworden wäre, hätte ich das Rennen vielleicht sogar gewonnen. Aber Platz 5 war auch nicht übel.«
Auch den schmalen Weg, den sie mit den Wanderern gehen würden, ein ehemaliger Jagdtrail der Indianer, fuhren Julie und Carol mit den Schlitten ab. Ein paar Meilen östlich vom Wonder Lake würden sie die Park Road verlassen und bis in die Senke unterhalb des Muldrow Glaciers durch den Schnee stapfen, um im Schatten der riesigen Bergmassive ihr Lager aufzuschlagen. Ein eindrucksvolles Erlebnis, auf das sich Julie riesig freute, auch wenn sie der Gedanke, dass Josh an der Wanderung teilnehmen würde, etwas aus der Ruhe brachte. Jeden Abend vor dem Einschlafen dachte sie an ihn, manchmal wurde sie dabei so wütend, dass sie ihr Kissen nahm und gegen den Wandschrank warf, um schon im nächsten Augenblick von seinen dunklen Augen zu träumen und im Schlaf zu lächeln.
In der Nacht vor der Wanderung schlief Julie sehr unruhig. Die Gewissheit, sich zum ersten Mal auf einer geführten Tour beweisen zu müssen, ließ sie immer wieder aus dem Schlaf schrecken und nervös in die Dunkelheit blicken. Ihr Rucksack stand gepackt vor dem Einbauschrank, aber hatte sie auch wirklich an alles gedacht? Obwohl sie eine Liste von Carol bekommen hatte, war sie unsicher und checkte ihr Gepäck mehrmals, denn wenn sie erst einmal unterwegs waren, gab es keine Möglichkeit mehr, etwas zu besorgen. Einen Teil ihrer Ausrüstung hatte sie erst vor einer Woche besorgt, das kleine Zelt und den Schlafsack, beides ein Geschenk ihres Vaters, die wasserdichten Stiefel, den Wasserfilter. Ihre Digitalkamera, so klein, dass sie in die Brusttasche ihres Anoraks passte, hatte sie sich vom großzügigen Abschiedsgeschenk der Queen gekauft.
Sie trank einen Schluck von dem lauwarmen Tee, den sie neben ihrem Bett stehen hatte, und blickte aus dem Fenster. Über den Fichten flackerte grünes Nordlicht, ein Anblick, der sie immer wieder faszinierte, obwohl sie schon so lange in Alaska lebte. Zwischen den Wolken waren der zunehmende Mond und einige Sterne zu sehen. Irgendwo in weiter Ferne heulte ein Wolf, wahrscheinlich am Rock Creek, wo Carol vor einigen Wochen ein Rudel gesichtet hatte. Als unheimliches Echo verhallte es in den Ausläufern der fernen Berge.
Was einer jungen Frau aus New York oder San Francisco vielleicht Angst bereitet hätte, beruhigte sie und stärkte ihren Mut für das Abenteuer der kommenden Tage. Josh gegenüber würde sie sich ganz normal verhalten. Ein junger Mann, dem sie aus der Patsche geholfen hatte, mehr war er doch nicht. Zumindest machte sie sich das vor. Carol würde darauf achten, wie professionell sie sich auf dieser ersten Tour verhielt und ihr Urteil sicher in einem Bericht vermerken. Nur wenn sie ihre Arbeit vorbildlich erledigte, hatte sie eine Chance, nach dem Praktikum von den Rangern im Denali National Park übernommen zu werden. Ein beliebter Posten, um den sich so viele Leute bewarben, dass man schon gut sein musste, wenn man den ersehnten Vertrag bekommen wollte.
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