Julie blieb in respektvoller Entfernung stehen. »Du musst Rowdy sein«, sagte sie lächelnd. »Warum bist du denn so wütend? Du musst doch nicht so einen Lärm machen. Oder kannst du mich nicht leiden? Das glaube ich nicht, Rowdy. Ich kann dich nämlich ganz gut leiden. Du bist ein stattlicher Kerl und hast sicher einiges drauf. Also mach nicht solch einen Lärm, sonst erinnerst du mich noch an meine Highschool-Zeit. Da gab es einen Jungen, der war genauso wie du, immer die große Klappe. Leider hatte er sonst wenig zu bieten. Das ist bei dir anders, da bin ich ganz sicher. Du bist ein guter Hund.«
Rowdy schien sie zu verstehen und hielt tatsächlich einen Augenblick inne, dann aber bellte er noch lauter als zuvor und steckte auch einige der anderen Hunde an. Sogar ihr Bronco fühlte sich herausgefordert und bellte wild.
Carol hatte wohl so etwas erwartet. »Rowdy ist eine harte Nuss, der gibt nicht mal Ruhe, wenn ihn der Super anspannt, und der lässt sich wenig gefallen.« Sie wandte sich dem aufgebrachten Hund zu. »Und wenn du nicht gleich die Klappe hältst, gibt’s heute Abend nichts zu fressen, hast du mich verstanden? Was soll denn Julie von uns denken, wenn du so einen Lärm machst!«
Unterwegs zu den Blockhäusern der Park Headquarters, die oberhalb des Hundezwingers lagen, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu: »Wenn wir unterwegs sind, gibt er sich etwas gesitteter. Skipper hat ihn ganz gut im Griff.«
Das Hauptquartier des Parks hatte sie bereits nach ihrer Vorstellung kennengelernt. Außer dem Hauptquartier mit den Büros und dem stattlichen Blockhaus, in dem Superintendent John W. Green mit seiner Frau wohnte, gab es eine Werkstatt und eine Tankstelle sowie eine Recreation Hall mit Fernseher, Computer, einem Pooltisch, einer kleinen Bücherei und einer Halle, in der Volleyball oder Basketball gespielt wurde. Im C-Camp teilten sich jeweils zwei Ranger ein Blockhaus mit zwei Schlafräumen und einer kleinen Küche, für die morgendliche Dusche gab es ein Shower House außerhalb des Camps, in dem auch die Waschmaschinen und Trockner untergebracht waren. Die monatliche Miete wurde vom Lohn abgezogen. »Kein Vergnügen, der Gang zum Shower House, wenn es so geschneit hat wie heute«, sagte Carol.
Carol führte Julie zu einem der Blockhäuser. »Du wohnst bei mir«, sagte sie und zeigte ihr das leere Schlafzimmer. Es war nüchtern eingerichtet, außer einem Bett gab es lediglich einen eingebauten Schrank und einen kleinen Schreibtisch, aber zumindest gab es ein Fenster, durch das man den lichten Fichtenwald und die Lichter einiger anderer Häuser sehen konnte. Ebenso zweckmäßig präsentierte sich die kleine Küche. »Im Winter haben wir kein fließendes Wasser, sonst würden uns die Leitungen zufrieren und platzen. Kochen tun wir mit Propangas. Wenn du mal beim Campen warst, kennst du dich aus.«
Viel wichtiger als die Kücheneinrichtung war Julie jedoch ihre neue Uniform, die über einem der Küchenstühle hing, dunkelgrün wie bei allen Rangern und mit dem flachen Hut, auf den die meisten Ranger besonders stolz waren. Dazu gab es einen winterfesten Anorak in der gleichen Farbe und eine Wollmütze. »Wow!«, staunte Julie, während sie mit der flachen Hand über die Uniform strich, »davon habe ich ein Leben lang geträumt. Wenn ich es jetzt noch schaffe, eine feste Anstellung zu bekommen … das wäre das Größte.« Sie trug die Uniform in ihr Schlafzimmer.
»Das schaffst du bestimmt«, ermutigte Carol sie. »Ich werde schon dafür sorgen, dass aus dir eine anständige Rangerin wird. Am besten richtest du dich erst mal häuslich ein. Ich erledige inzwischen einigen Papierkram. In einer Stunde hole ich dich ab, dann gehen wir zusammen auf Patrouille, okay?«
»Heute schon?« Sie strahlte. »Das ist ja riesig. Ich beeile mich.«
Julie holte ihren Pick-up und parkte ihn direkt vor dem Blockhaus. Sie brauchte keine halbe Stunde, um ihr Gepäck in die Hütte zu tragen. Sie hatte sich die Ausrüstung besorgt, die den neuen Praktikanten in einer Info-Broschüre empfohlen wurde. Einige persönliche Dinge verstaute sie sofort in ihrem Nachttisch, darunter auch ein Foto ihrer Eltern, als sie noch verheiratet gewesen waren. Sie sehnte sich oft nach dieser Zeit, vor allem, weil sie kaum noch Kontakt zu ihrer Mutter hatte, die beinahe viertausend Meilen von ihr entfernt in San Diego wohnte und sich nur alle paar Wochen meldete, meist per E-Mail. »Viel Glück«, hatte ihre Mutter gemailt, als sie ihr von der Anstellung als Rangerin berichtet hatte, »ich hoffe, du bringst es bis zum Superintendent.« Ihrer Mutter war ihre Karriere immer wichtig gewesen, und auch sie sah ihren Beruf im Augenblick an erster Stelle. Das nächste halbe Jahr würde entscheidend für ihre berufliche Entwicklung sein, und sie hatte geschworen, sich ganz auf ihren Job zu konzentrieren. Für Beziehungskisten, wie sie Abenteuer dieser Art spöttisch nannte, blieb da wenig Zeit. Von oberflächlichen Lovern und One-Night-Stands, die nur einen bitteren Geschmack hinterließen, hielt sie sowieso nichts. Wenn irgendwann ein Mann in ihr Leben trat, sollte er auch ernste Absichten haben. Vorausgesetzt, sie liebte ihn.
Julie seufzte und machte sich wieder ans Auspacken. Ebenfalls auf ihren Nachttisch kam ein Plüschfrosch, den sie Mr. Green nannte. »Think Green« hatte er auf seinem Bauch stehen. Ihre Lebensmittel brachte sie im Vorratsschrank, dem Kühlschrank und dem Gefrierschrank unter. Sie würden für mindestens zwei Wochen reichen. In der näheren Umgebung des Parks gab es lediglich einige überteuerte kleine Läden.
Nachdem sie mit dem Einräumen fertig war, tauschte sie ihren Anorak und ihre Mütze gegen die neuen Kleidungsstücke des Nationalparks aus und sah sich das Shower House und den Recreation Room an, bevor sie zu ihrem Blockhaus zurückkehrte. Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel, lächelte zufrieden und wartete vor der Tür auf Carol. Das Schneetreiben hatte nachgelassen, und es war nicht mehr so kalt wie am frühen Morgen, vielleicht lag das aber auch an ihrem neuen Anorak oder daran, dass die Blockhütten des C-Camps alle windgeschützt zwischen hohen Fichten lagen. Der Wind rauschte leise in den Baumkronen und trieb dünne Schneeschleier von den Dächern.
»Der Anorak steht dir gut«, sagte Carol, als sie zurückkam. Sie war in Begleitung eines stämmigen Mannes, der das goldene Abzeichen eines Polizisten an seinem Anorak trug und die natürliche Autorität ausstrahlte, die man bei vielen Polizisten fand. Er musste um die fünfzig sein. Sein Gesicht war wettergegerbt, die Augen stahlblau, der dichte Schnurrbart grau, und das Einzige, was ihn von einem Sheriff, wie ihn Julie aus Westernfilmen kannte, unterschied, waren die etwas zu dicken Backen und der leichte Bauchansatz, der allerdings unter seinem Anorak fast vollkommen verschwand. »Das ist Greg Erhart, unser Polizeichef. Er möchte, dass wir ihm bei der Suche nach zwei Jugendlichen helfen. Zwei Halbwüchsige, die anscheinend ein Snowmobil-Rennen veranstalten und den Park mit einer Rennpiste verwechseln. Sie treiben sich am Igloo Creek rum, da kommt man nicht mal mit dem Geländewagen hin.«
Julie stellte sich vor und unterdrückte mühsam einen Schrei, als der Polizeichef sie mit einem festen Händedruck begrüßte. »Und wir sollen sie festnehmen?«, fragte sie verwundert. »Ich dachte, das dürfen nur Polizisten.«
»Normalerweise schon«, stimmte ihr Greg zu, »aber wir haben es mit zwei jungen Kerlen zu tun, die weder gemeingefährlich noch bewaffnet sind.« Sein Schnurrbart war eisverkrustet und zitterte nicht mal. »Ich habe nicht zum ersten Mal mit den beiden zu tun. Der Super würde mir ordentlich einheizen, wenn ich ihretwegen einen Hubschrauber klarmachen würde. Schon mal von einem Aufgebot gehört? Das waren erfahrene Bürger, die ein Sheriff im alten Westen als Helfer verpflichtete, wenn er auf Verbrecherjagd ging.« Er rieb sich über den Schnurrbart. »So streng, wie es in der Broschüre steht, die man Ihnen gegeben hat, sind unsere Abteilungen nicht getrennt. Man hat mir gesagt, Sie können gut mit einem Hundeschlitten umgehen?«
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