„Ich hatte schon vergessen, dass du nicht das verzogene Mädchen bist, das Hilfe braucht“, sagte Jerino, und als er lächelte, blitzten seine Zähne im Mondlicht.
„In der Tat“, murmelte Isa. „Wohin jetzt?“
„Folge mir.“
Gemeinsam huschten sie über die Dächer hinweg, ehe Jerino an einer geeigneten Stelle zurück auf den Boden kletterte.
Isa folgte ihm.
Die Bucht von Karpensas, die der Junge ihr zeigen wollte, bestand aus zwei Hälften: In der einen lag der große und belebte Hafen, in der anderen ein feiner Sandstrand, umgeben von alten Häusern.
Jerino führte Isa in jenen zweiten Teil der Bucht. Vollmondlicht beleuchtete ihren Weg. Die Stadt schien zu schlafen und kein einziges Licht erhellte die Fenster der Häuser. Irgendwo raschelte es.
„Vermutlich Ratten“, dachte Isa grimmig. Sie war nicht eines dieser Mädchen, das deshalb kreischend auf einen Tisch gesprungen wäre, doch sie wusste, dass sie in großen Gruppen gefährlich werden konnten.
Das Mädchen blickte Jerino verstohlen von der Seite her an. Er schien ganz ruhig zu sein und Isa konnte spüren, dass er auch in brenzligen Situationen nur selten die Fassung verlieren würde. Es war gut, jemanden wie ihn an ihrer Seite zu wissen. Sein Wort würde niemals durch Angst oder eine überstürzte Entscheidung getrübt sein!
Die beiden Kinder erreichten den Strand und Isa zog ihre Schuhe aus. Sie spürte den weichen Sand unter ihren nackten Füßen und grub lächelnd ihre Zehen hinein. Dann bückte sie sich, um einige der feinen Körner aufzuheben, und ließ sie langsam durch ihre Finger rieseln.
„Komm.“ Jerino nahm sie am Arm und führte sie zu einem Felsen, der fast senkrecht aus dem Sand ragte.
Sie fragte ihn, wie der wohl hierhergekommen war, doch auch der junge Magier an ihrer Seite wusste es nicht.
Die Flut war bereits vorüber und der Stein war noch etwas feucht und salzig vom Meerwasser. Isa strich über seine raue Oberfläche und blickte auf das Wasser hinaus, das matt im Mondlicht schimmerte. Lange standen die beiden nebeneinander und sagten nichts. Selbst Jerino, der hier bestimmt schon viele Male gewesen war, schien den Anblick zu genießen.
„Es ist wunderschön. Weißt du, ich war noch nie an einem Strand. In Merlina, wo ich herkomme, da gibt es nur Klippen, so weit das Auge reicht“, meinte Isa fasziniert in die Stille hinein.
„Ist es dort schön?“ Jerinos Augen leuchteten wie blaue Edelsteine in der Dunkelheit. In ihnen schien sich das weite Meer zu spiegeln, als hätte er das Wasser eingefangen.
„Ja, sehr. Wenn du ganz oben auf den Klippen stehst, viele Meter über dem Meer, und der Wind über dich hinwegfegt, dann erzählt er dir Geschichten von Freiheit und Glück. Er flüstert dir zu, wie es ist, zu fliegen und erzählt dir von fremden Orten.“
„Nun, die Luft ist dein Element. Du fühlst dich mit ihm verbunden, wie ich mich mit Wasser verbunden fühle. Vermisst du den Wind?“
„Manchmal. Aber mein Element ist überall auf der Welt zu finden. Luft, Stürme, Unwetter, Sonnenschein oder Regen. Sie sind für mich wie das Spiegelbild meiner eigenen Seele.“ Isalia lächelte verträumt.
„Bei mir ist es ähnlich. Ich fühle die Kraft der Wellen und die Sanftheit der Bäche, die aufschäumende Gischt, die mit Wut gegen die Klippe prallt, und die Ruhe der stillen Gewässer.“ Jerino zeichnete mit dem Fuß Schlangenlinien in den Sand, dann blickte er sie mit einem unergründlichen Blick an. „Kanntest du deine Eltern?“
Isa war etwas überrascht über diese direkte Frage. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Sie haben mich vor dem Waisenhaus ausgesetzt, als ich erst wenige Tage alt war.“
„Das tut mir leid.“ Jerinos Stimme klang mitfühlend.
„Muss es nicht. Ich denke nur sehr selten an sie.“ Isa seufzte. „Und deine Eltern?“
„Meine Mutter starb, als ich ein kleines Kind war, meinen Vater kannte ich nicht. Er hat uns kurz nach meiner Geburt verlassen.“
Bedrücktes Schweigen folgte. Man hörte nur die Wellen, die an den Strand schwappten.
„Tut mir auch leid“, flüsterte Isa.
In Jerinos Augen lagen Trauer und Hass zugleich. „Es ist schon so viele Jahre her, aber es ist bisher kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Rache an den Mördern meiner Mutter gedacht habe.“
„Was ist geschehen?“
„König Salsars Männer haben sie getötet. Ich war damals vier Jahre alt und wir lebten ein wenig abseits auf einem Hof, zwei Stunden von Karpensas entfernt. Meine Mutter ist dorthin gezogen, kaum dass ich geboren war. Ich glaube, sie war eine Magierin und wusste über das Amulett Bescheid, obwohl sie niemals mit mir darüber gesprochen hat. Na ja, und dann sind diese Soldaten gekommen.“
Er schloss die Augen. „Ich erinnere mich noch sehr genau an diese Nacht. Sie war dunkler als jede andere zuvor. Meine Mutter kam in mein Zimmer und weckte mich. Sie wirkte verstört und ängstlich. Ich wusste nicht, was los war. Sie brachte mich zur Hintertür, gab mir mein Amulett und sagte ich solle laufen. So weit weg, wie ich könne. Ich heulte und tobte, doch als ich die Verzweiflung in ihrem Blick sah, ging ich. Ich lief nicht weit. Am Waldrand verbarg ich mich zwischen den Bäumen und beobachtete das Haus. Ich hatte solche Angst um meine Mutter.“ Jerino ließ die schrecklichen Erinnerungen für einen Moment Revue passieren. „Und dann sind Männer in schwarzen Umhängen gekommen. Ich hörte, wie meine Mutter die Tür öffnete, und wie die Männer nach mir fragten. Sie kannten meinen Namen, woher weiß ich nicht. Vermutlich hat uns jemand verraten …“
Jerino stockte und Isa konnte die Wut in seinen Augen lesen. „Als meine Mutter nicht antwortete, begannen sie, sie zu schlagen. Ohne Erfolg, wie sie bald feststellen mussten, und da kamen sie auf die glorreiche Idee, dass sie sie als Köder benutzen könnten. Sie sperrten sie in unserem Haus ein und steckten es in Brand. Ich hörte ihre Schreie, wollte zu ihr laufen, direkt in die Falle der Männer. Es war mir egal, was sie mir antun würden. Ich wollte nur zu ihr und jeder andere Gedanke war wie weggewischt … doch das Amulett hielt mich zurück. Es zog mich weg vom Haus, weg von den Schreien. Ich tobte und sträubte mich dagegen, aber es ließ mich nicht gehen. Vermutlich hat es mir das Leben gerettet …“
„Das tut mir leid“, wiederholte Isalia noch einmal. Das war schrecklich. Sie bewunderte diese Frau, die sich so selbstlos für ihr einziges Kind geopfert hatte.
Jerino schaute Isa nicht an. Noch nie hatte er irgendjemandem seine Geschichte erzählt, mit Ausnahme seines besten Freundes, den er Jahre gekannt hatte und der vor wenigen Monaten von einer Seuche dahingerafft worden war.
Und nun war da dieses Mädchen, dem er erst vor wenigen Stunden begegnet war und dem er gerade sein allergrößtes Geheimnis anvertraut hatte.
„Denkst du, meine Mutter hat mich auch vor König Salsar beschützen wollen?“, fragte Isa leise und blickte hoch zu den Sternen.
„Schon möglich“, antwortete Jerino. Seine Stimme klang wieder gefasster. „Solange du den wahren Grund nicht kennst, solltest du diese Möglichkeit jedenfalls nicht ausschließen. Immerhin sind wir keine normalen Kinder.“
Isa seufzte. „Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Deine Mutter war eine so tapfere Frau. Es wäre beruhigend zu wissen, dass meine auch nur das Beste für mich wollte.“
„Vielleicht wirst du es ja irgendwann erfahren.“ Erneut schwiegen sie beide eine Weile. Das Wasser glitzerte im Mondlicht.
„Da gibt es noch etwas, das ich gerne von dir wissen würde …“ Jerinos Stimme klang gedämpft.
„Ja?“, fragte Isa und lenkte ihren Blick zu ihm zurück.
„An meinem 13. Geburtstag hatte ich zwei seltsame Träume, die beide vom Amulett handelten …“
„Und du willst wissen, ob ich dieselben auch hatte?“
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