„Und wie hast du es wieder zurückbekommen?“
Der Junge zögerte. „Es gab jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldig war …“
Isa nickte. „Kannst du auch erklären, wieso ich die beschriebenen – nennen wir es Nebenwirkungen – nicht gespürt habe, als du mein Amulett gestohlen hast? Und meine Magie war auch noch da!“
„Darüber habe ich auch bereits nachgedacht. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich auch ein Amulettmagier bin. Es muss eine Art Verbindung zwischen uns bestehen, die es erlaubt, dass der Strom der Magie weiterhin zwischen uns zirkuliert.“
Isa nickte nachdenklich. Was er da sagte, klang einleuchtend. Doch es erklärte nicht den Hass, den sie auf den jungen Dieb verspürt hatte, als er ihr Stück in den Händen hielt. War es womöglich eine Art Schutz? Was geschah, wenn sie das Amulett freiwillig an Jerino gab?
„Ich möchte etwas versuchen“, stellte Isa fest und ihre Stimme ließ keine Widerrede zu.
„Lass hören!“ Jerino beobachte sie interessiert.
„Als du mein Amulett gestohlen hast, habe ich dich dafür gehasst“, erklärte Isa. „Es war ein inneres Gefühl, das ich nicht kontrollieren konnte und das dich am liebsten mit Blitzen durchlöchert hätte …“
„Auf was willst du hinaus?“, fragte er misstrauisch und kniff die Augen zusammen.
„Nimm mein Amulett.“ Isa streckte es ihm entgegen, doch Jerino zuckte zurück, als könnte er sich daran verbrennen.
„Niemals!“
Isa seufzte. „Dann gib mir deines“, forderte sie ihn ungeduldig auf. „Komm schon, sei kein Feigling!“
„Muss das sein?“, grummelte er, trat aber wieder einen Schritt näher an sie heran. „Hier.“ Er streckte ihr das Amulett entgegen und sie nahm es vorsichtig in die Hände. Es fühlte sich ebenso warm und freundlich an wie ihr eigenes Stück. Sie warf dem Jungen einen fragenden Blick zu. „Und? Spürst du irgendetwas?“, wollte sie wissen. Doch der schüttelte nur den Kopf. „Nein, ich fühle mich so wie immer.“
„Ha!“, stieß Isa erfreut hervor und warf Jerino ihr Luftamulett zu. Der fing es reflexartig auf und musterte sie besorgt.
Isa lächelte. „Schau mich nicht so an, als würde ich mich jeden Augenblick wie eine Furie auf dich stürzen! Ich fühle mich prächtig!“
Vega und Massimo schliefen noch, als sich die beiden Kinder dazu entschlossen, ihnen von Jerinos Rückkehr zu berichten. Sie mussten mehrmals klopfen, ehe Vega in einem rosa Nachthemd und mit halb geschlossenen Augen die Tür öffnete.
Als ihr Blick auf Jerino fiel, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht und sie war sofort hellwach.
„Jerino! Schön, dass du zurückgekommen bist!“, rief sie aus und wäre ihm wohl am liebsten um den Hals gefallen. Nur die Skepsis, die sich deutlich in seinen Augen abzeichnete, hielt sie davon ab und so beließ sie es bei einem freundlichen Lächeln.
„Ja, ich habe es mir nochmals überlegt“, gestand der junge Dieb. „Vielleicht ist das alles einen Versuch wert …“
Massimo trat neben Vega und zwinkerte Jerino zu. „Schön, dass du uns eine Chance gibst, um dir zu zeigen, dass wir gar nicht so schlechte Menschen sind, wie du möglicherweise denkst.“
Der Junge lächelte schwach. „Nun, das werde ich wohl noch früh genug erfahren.“
Die beiden Erwachsenen und die zwei Kinder sprachen noch eine Weile miteinander und Isa erfuhr vieles, was sie über die Familie Aleander noch nicht gewusst hatte. Jerino sprach kaum etwas in dieser Zeit und lauschte nur interessiert.
„Meine Familie ist im Geldgeschäft tätig“, erklärte Massimo, der sich in einem großen Sessel niedergelassen hatte. „Mein Großvater hat mit dem Verleih von Geld ein riesiges Vermögen angehäuft und dadurch großen Einfluss in Aria gewonnen. Da ich ein Einzelkind bin, habe ich das Geschäft von meinem Vater nach dessen Tod übernommen.“
Vegas Familiengeschichte war im Gegensatz zu Massimos wesentlich trauriger: Sie entstammte dem Geschlecht der Pyringer, einem Adelsgeschlecht, deren Mitglieder fast ausschließlich die Gabe der Magie besaßen. Ihre beiden Brüder starben beim Angriff auf die Magierinsel Attillia, ihre kleine Schwester beim Vulkanausbruch in Neosis. Diese ließ ihr einziges Kind als Waise zurück: Valeria, die Adoptivtochter der Aleanders und Amulettmagierin des Feuers.
„Valeria ist die Einzige von euch vieren, die bereits in Magie unterrichtet wurde“, erklärte Vega leise und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ihr Element ist das Unberechenbarste der vier Naturelemente. Bereits mit acht Jahren entfachte sie Feuer, wenn sie wütend war, und gefährdete damit die Menschen in ihrer Nähe. Doch auch heute noch ist es gefährlich für sie, die Beherrschung zu verlieren. Ich glaube, das ist einer der Gründe, wieso sie auf andere sehr zurückhaltend und ängstlich wirkt.“ Vega seufzte und fuhr fort: „Leider fühlte sich unser Sohn Alessandro durch ihren Unterricht stets benachteiligt. Er denkt, dass er keine Magie besitzt.“
„Aber er ist doch auch ein Amulettmagier, oder nicht?“, fragte Isa verwirrt.
„Ja, natürlich ist er das“, hauchte Vega mit bekümmerter Miene. „Aber seine Magie ist die Magie der Erde. Sie braucht Zeit und Geduld, um zu wachsen, wie sie auch Pflanzen brauchen. Und je mehr er selbst glaubt, er besitze keine Gabe, desto mehr verhindert er dieses Wachstum. Es ist, als würde man einen Baum stutzen.“
Massimo nickte traurig. „Ganz egal, wie oft wir ihm sagen, dass er nur Geduld zu haben braucht, er glaubt uns nicht. Seiner Meinung nach hat sich Valeria zwischen ihn und uns gedrängt.“
Die beiden Erwachsenen blickten einander an und Isa konnte die Sorge in ihren Augen lesen. Das Problem schien größer zu sein, als sie es vielleicht wahrhaben wollten.
„So, aber nun ab ins Bett mit euch“, meinte Vega und klatschte in die Hände. „Wir haben Morgen eine lange Reise vor uns.“
„Reise?“, fragte Jerino mehr interessiert als erschrocken.
Vega nickte. „Wir fahren nach Sentak in unsere Familienresidenz zurück. Wenn du nicht mitkommen willst, kannst du dich jetzt immer noch umentscheiden.“
„Nein.“ Der Junge schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich dachte mir schon, dass ihr nicht hier lebt. Es ist mir egal, Karpensas zu verlassen. Es gibt nichts, was mich hier halten würde.“
Vega lächelte. „Gut, dann bis morgen früh!“ Mit diesen Worten scheuchte sie die Kinder aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Die wenigen Stunden, die sie noch auf festem Boden verbrachten, wollte sie für Schlaf nutzen. Die Seekrankheit war eine lästige Sache und sie wusste, dass es ihr wieder tagelang speiübel sein würde.
Als die beiden Kinder in Isas Zimmer standen, eilte Jerino auf direktem Weg zur Balkontür und trat nach draußen in die laue Nachtluft. Isa folgte ihm.
„Hast du Lust auf ein kleines Abenteuer?“, fragte er mit funkelnden Augen und drehte sich zu ihr um. „Ich könnte dir einige schöne Orte der Stadt zeigen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und grinste sie schelmisch an.
„Ich weiß nicht. Es ist doch mitten in der Nacht und Vega …“
„Sei keine Spielverderberin! Ich habe viele Jahren in diesen Straßen gelebt und werde schon auf dich aufpassen.“
Isa lächelte. „Du kannst nicht einmal auf dich selbst achtgeben.“ Trotzdem trat sie zu ihm.
„Nicht auf mich selbst achtgeben? Das gestern Morgen war nur ein unerwarteter Zwischenfall“, grummelte Jerino, dann spannte er seine Muskeln an und sprang nach oben. Flink griff er nach der Regenrinne und zog sich dann ohne ersichtliche Anstrengung auf das Dach. Er streckte Isa die Hand entgegen, doch diese schüttelte entschieden den Kopf.
„Warte! Ich kann nicht in meinem Nachthemd über die Dächer streunen!“ Sie verschwand im Inneren des Zimmers und kehrte nur fünf Minuten später zurück. Sie trug das einfache Wollkleid, das sie aus dem Waisenhaus mitgenommen hatte. Dieses Mal ignorierte sie Jerinos ausgestreckte Hand bewusst, sprang nach oben und schwang sich ebenso geschickt auf das Dach wie der Junge. Elegant landete sie auf den Füßen.
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