„Willkommen am Gericht von Karpensas. Der Gerichtssaal befindet sich gleich zur Rechten der Eingangshalle“, erklärte er.
Vega nickte ihm dankend zu, dann betrat sie, gefolgt von Isa und Massimo, das Gerichtsgebäude. Dieses war riesig, hell ausgeleuchtet und das genaue Gegenteil des düstern Stadtteils, in dem sie sich gerade befanden.
Auch der Raum, in dem der Gerichtstag abgehalten wurde, war groß und reich geschmückt. Es gab keine Fenster, doch alles war mit Kerzen ausgeleuchtet wie am helllichten Tag. Die Sitzbänke für Besucher waren mit Polstern ausgelegt, um es ihnen so bequem als nur möglich zu machen. Sie waren in einem Halbkreis um eine Art hölzerne Tribüne angeordnet worden, auf der sich der Richter und einige andere Personen eingefunden hatten.
Als sie den Raum betraten, waren die Verhandlungen bereits in vollem Gange. Es gab auch einige weitere Zuschauer, darunter vor allem reich aussehende Bürger und Händler, die das Geschehen gelangweilt verfolgten.
Durch eine unscheinbare hölzerne Tür wurden die Gefangenen hereingeführt und vor den Richter gezerrt, der wie ein Unheil verkündender Schatten über ihnen aufragte. In ihren schmutzigen Kleidern und mit den vor Angst und Verzweiflung verzerrten Gesichtern wirkten sie verloren und fremd in diesem prächtigen Raum.
Isa hatte Mitleid mit den Unglücklichen und am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihnen geholfen. Doch sie wusste, dass ihr in dieser Hinsicht die Hände gebunden waren. Sie konnten schon von Glück sprechen, wenn sie den jungen Dieb mit den leuchtenden Augen aus seiner misslichen Lage befreien konnten.
So saß das Mädchen unruhig auf seinem Stuhl und wünschte sich an einen anderen Ort. Es wollte nicht hören, wie die Männer, Frauen und Kinder bestraft wurden, doch es konnte die harschen Worte des Richters einfach nicht aus seinen Gedanken verbannen. Die Strafen waren hart: Das Abschlagen einer Hand, Gefängnis oder Urteile wie die Arbeit in den Minen waren keine Seltenheit. Isa war über die Willkür, mit welcher der Richter die Menschen verurteilte, entsetzt und zutiefst betroffen. Beweise lagen so gut wie niemals vor.
Wo blieb denn hier die Gerechtigkeit? Je mehr Angeklagte vorgeführt wurden, desto mehr kamen Isa Bedenken: Woher holten sie so viele Verbrecher? Hatten sie wirklich etwas Unrechtes getan? Die meisten von ihnen schienen nur mittellose, eingeschüchterte Menschen aus den Vororten zu sein, die nicht wussten, wie ihnen geschah. Es waren Leute, die nicht das Geld besaßen, sich freizukaufen, und die, aufgrund der zunehmenden Armut in den Städten, Unruheherde und somit eine Gefahr darstellten.
Isa war sich sicher, dass dieses Gericht nicht der Gerechtigkeit diente, sondern dazu, die Bevölkerung einzuschüchtern und unter Kontrolle zu halten.
Ihr Groll auf König Salsar war größer als je zuvor und er wuchs noch immer. In Merlina war sie weit fort von all dem gewesen und nahezu frei vom Einfluss des Tyrannen. Nun endlich sah sie mit eigenen Augen, was sie nur von den Händlern gehört hatte: Die Bevölkerung Arias litt unter Salsar.
„Wenn ich nur etwas dagegen tun könnte ...“, dachte sie.
„Nächster“, murrte der Richter, nachdem ein schmächtiges, schluchzendes Mädchen wegen Diebstahls zu einer lebenslangen Strafe in den Minen von Abatur verurteilt worden war. Isa blickte ihm betrübt nach. Lange würde es nicht mehr leben, nicht in den Minen …
Die Türflügel öffneten sich erneut und zwei riesenhafte Männer führten einen Jungen in verschlissener Kleidung in den Saal. Erst konnte sie ihn nicht sehen, doch ganz plötzlich wusste sie, dass er es war: der letzte noch fehlende Amulettmagier. Wie eine Welle schwappte seine Magie in den Raum und flutetet ihn vollständig. Vega zuckte neben ihr zusammen.
„Unglaublich“, flüsterte sie. „Du hattest recht.“
„Sagte ich doch“, murmelte Isa zurück und richtete sich in ihrem Stuhl auf, um den Jungen besser sehen zu können.
Dieser blickte zu Boden und die Haare hingen ihm so tief ins Gesicht, dass sie seine leuchtenden Augen verdeckten. Dann, ganz plötzlich, hob er langsam den Kopf und blickte Isa an. Fragen lagen in seinen Augen, viele Fragen. Er musste ihre Magie genauso spüren wie sie die seine.
„Was passiert nun? Was soll ich tun, wenn ich gegen ihn aussagen soll?“, erkundigte sich das Wettermädchen bei seiner Mutter. Unruhig knetete es seine Finger.
„Sie werden nach Zeugen fragen, und wenn du dich meldest, werden sie dich nach vorne bitten“, erklärte Vega ruhig. „Atme gut durch, dann sagst du ihnen, dass er unschuldig sei.“
„Und dann?“
„Sie werden ziemlich verblüfft sein, nehme ich an, aber mehr musst du eigentlich nicht tun. Den Rest werde ich dann erledigen.“ Vegas Gesicht verdüsterte sich bei ihren Worten zusehends und sie schüttelte missmutig den Kopf. „Sonst würden sie ihn selbst mit deiner gegenteiligen Aussage verurteilen.“
„Das ist nicht gerecht“, stieß das Mädchen fassungslos hervor und ballte seine Hände zu Fäusten. „Wie können die Menschen nur die Augen vor dieser Willkür verschließen?“
Ihre Adoptivmutter seufzte leise. „Unsere Welt“, flüsterte sie, „hat schon seit vielen Jahren vergessen, was das Wort Gerechtigkeit bedeutet.“
Isa hatte Mühe ihre hilflose Wut zu unterdrücken. Zornig presste sie die Lippen zusammen und atmete so langsam und gleichmäßig, wie sie nur konnte. Ihr Blick hing an dem Jungen, der mit gesenkten Schultern vor dem Richter stand.
„Wir werden dich befreien!“, dachte sie bei sich. „Koste es, was es wolle.“
In diesem Augenblick begann die Verhandlung.
„Name?“, fragte der Richter, ohne aufzusehen, und der Schreiber, der neben ihm saß, tunkte eine Feder in Tinte.
Der Junge zögerte.
„Name?!“, wiederholte der Mann mit eisiger Stimme und hob seinen Kopf. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“ Isas Herz schlug wie wild. Endlich würde sie seinen Namen erfahren!
„Jerino. Ich heiße Jerino.“ Seine Stimme klang warm und freundlich.
Eine Feder kratzte über Papier, ehe der Richter mit gelangweilter Stimme weitersprach: „Die Anklage gegen Jerino lautet auf Diebstahl, eine Magieprüfung wurde noch nicht vorgenommen. Gibt es Zeugen?“
„Ja“, meldete sich Isalia und erhob sich zögernd. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie versuchte, gefasst zu wirken. Der Junge ließ durch keine Regung erkennen, was er dachte oder von ihr erwartete. Sein Gesicht war wie versteinert.
„Tretet vor, Mylady“, sagte der Richter und winkte sie nach vorne.
Isalia tat, was er verlangte, und trat zur Tribüne. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.
„Name?“
„Isalia Aleander.“ Ihr Nachname klang noch immer fremd und ungewohnt in ihren Ohren. Er war etwas Wertvolles, etwas, das sie niemals zuvor besessen hatte.
Der Richter starrte sie einige Sekunden unverwandt an, dann neigte er kurz seinen Kopf in ihre Richtung. „Es ist mir eine Ehre, ein Mitglied der Familie Aleander hier begrüßen zu dürfen.“
Dann räusperte er sich und meinte mit monotoner Stimme: „Nun, befinden Sie den Angeklagten für schuldig, junge Lady?“ Es schien, als würde er ein Gähnen unterdrücken, dann kaute er auf einem seiner Fingernägel herum.
„Nein.“
Stille. Alle Blicke richteten sich auf sie. Der Mann ihr gegenüber war in seiner Haltung erstarrt und nahm langsam die Hand herunter. Eine seiner Augenbrauen zuckte erstaunt nach oben. Das hatte er wohl schon lange Zeit nicht mehr erlebt.
Auch Jerino starrte sie an und Isa konnte fühlen, dass er alles erwartet hatte, nur nicht dieses eine Wort.
Der Richter richtete sich knarrend in seinem Stuhl auf und beugte sich über den Tisch in ihre Richtung. Noch immer herrschte Totenstille. „Wie bitte?“, fragte er ungläubig und befeuchtete seine Lippen mit der Zunge.
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