Über eine Stunde verbrachte Isa im Badezimmer und genoss den Luxus von fließendem Warmwasser und nach Rose duftender Seife. Es war eine Wohltat nach der anstrengenden Reise der letzten Wochen und sie hätte diese Oase der Ruhe am liebsten nie wieder verlassen. Dennoch fasste sie sich schließlich ein Herz, hüllte sich in einen weichen Bademantel und betätigte den Glockenzug, den Vega ihr im Brief beschrieben hatte. Wenn sie tatsächlich dieses Kleid anziehen sollte, das dort so unschuldig über dem Stuhl hing, brauchte sie Hilfe. Oder sollte sie einfach in ihre normalen Kleider schlüpfen?
Sie stellte sich die missbilligenden Blicke der anderen Gasthausbewohner vor und verwarf den Gedanken sofort wieder. Vega zuliebe würde sie ein solches Kleid tragen. Es dauerte weniger als zwei Minuten, da klopfte bereits eine ältere Angestellte an die Zimmertür und Isa ließ sie mit einem freundlichen Lächeln eintreten.
Sie zeigte ihr das Kleid. „Könnt Ihr mir damit helfen?“
„Natürlich, Lady Aleander.“ Die Frau knickste leicht und half ihr ohne Widerrede in das Kleid.
Als sie schließlich das Korsett so fest zusammenzog, dass Isa kaum noch Luft bekam, fuhr sie die Frau wütend an. „Was macht Ihr denn da?“
„Das macht man so, Miss“, antwortete die Bedienstete etwas erschrocken. „Das ist in Mode.“
„Wirklich?“ Isa war entsetzt. Wie konnten die reichen Frauen in so etwas atmen?
Kurz überlegte sie sich, das Kleid wieder auszuziehen, doch früher oder später würde sie sich wohl daran gewöhnen müssen.
Als Isa endlich fertig angekleidet war (es fühlte sich an, als wären Stunden vergangen), gab es nichts mehr, das sie davon abhielt, nach draußen zu gehen und Karpensas zu erkunden. Voller Tatendrang verließ sie die Gaststätte und trat in den Sonnenschein hinaus.
Auf der Straße fing Isa einige bewundernde Blicke ein und die Menschen begegneten ihr mit einem Respekt, der ihr beinahe unheimlich war. Ohne zu zögern, folgte sie der Hauptstraße in nördliche Richtung, dorthin, wo viele Menschen strömten. Ihr Amulett und den Geldbeutel hatte sie in der passenden blauen Tasche untergebracht.
Es war drückend heiß in den Straßen der Stadt und der Stoff ihres Kleides klebte unangenehm an ihrer Haut. Auch der Gestank übertraf alles, was sie bisher erlebt hatte. Er schien noch viel unerträglicher zu sein als gestern.
Der Grund war jedoch nicht ausschließlich die sommerliche Hitze, sondern auch die bedrückende Enge ihres Kleides. Sie bekam kaum Luft und war heilfroh, dass Vega an einen Fächer gedacht hatte, der ihr zumindest etwas Kühlung verschaffte.
Langsam schlenderte Isa zum Markt. Langsam vor allem deshalb, weil ihre Lungen dadurch weniger Luft benötigten. Es war ein seltsames und ungewohntes Gefühl, wie ein reiches Mädchen durch Karpensas zu gehen, vollkommen anders, als wenn sie in ihrem alten, unscheinbaren Wollkleid hier herumgewandert wäre. So fühlte sie sich ständig beobachtet und unangenehm in den Mittelpunkt gedrängt.
Nach kurzer Zeit erreichte sie schließlich einen Platz, auf dem sich viele Stände aneinanderreihten und geschäftiges Treiben herrschte. Es schien Markttag in Karpensas zu sein und eine bunte Mischung unterschiedlichster Menschen hatte sich hier zusammengefunden. Es gab nur ein langsames Vorankommen, doch immer wieder schaffte es Isa, zu verschiedenen Ständen durchzudringen und sich das Angebot etwas näher anzusehen. An einem kleinen Stand, der neben einer großen Auswahl von Muscheln in allen Größen auch Ketten, Armbänder und Ringe anbot, blieb sie schließlich etwas länger stehen und betrachtete fasziniert die farbenfrohe Auswahl. Eine wundervolle Kette aus weißen Perlen fiel ihr ins Auge.
„Eine gute Wahl“, meinte der Händler, als sie ihr Interesse daran bekundete. „Echte Meeresperlen.“
„Wie viel kostet sie denn?“
„Ach nicht allzu viel: Nur drei Silbermünzen“, antwortete der Mann und lächelte gekünstelt.
Isa blickte ihm tief in die Augen. Nein, der Preis musste viel zu hoch sein und ihren Instinkten konnte sie trauen. Denn natürlich hatte sie keine Ahnung von Geld. „Die ist niemals drei Silbermünzen wert“, behauptete sie daher mit fester Stimme, überlegte kurz und meinte dann: „Ich gebe Euch eine Silbermünze und zehn Bronzemünzen.“
„Zwei Silbermünzen!“
„Nein. Ich bin heute nicht zum Handeln aufgelegt!“, sagte Isa und hob stur das Kinn. „Eine Silber- und zehn Bronzemünzen. Nehmt mein Angebot an oder vergesst es!“
„Ihr macht mich arm, Mylady!“, klagte der Mann, doch Isa wusste, dass er das Angebot annehmen würde. Die Kette war vermutlich sogar noch weniger wert als eine Silbermünze. Es war also nicht so, dass er nicht daran verdienen würde.
Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. „Nun?“
„Na gut, wenn es unbedingt sein muss. Eine Silber, zehn Bronze.“
Isa holte ihren Geldbeutel hervor und gab dem Händler sein Geld. Der prüfte die Münzen mit seinen Zähnen und steckte sie schließlich mit einem Nicken in seine Tasche.
„Händlerfamilie?“, vermutete er und blickte sie fragend an.
„Was?“
„Nun ja, Ihr kennt Euch mit dem Wert von Gegenständen aus. Da dachte ich, dass Ihr vielleicht eine Tochter aus einem reich gewordenen Händlerclan seid. Außerdem habe ich noch nie eine edle Dame ohne ihr parfümiertes Taschentuch gesehen.“
Isa lächelte. „Nein, eigentlich nicht. Ich komme vom Lande. Das mit dem Gespür für den Wert von Gegenständen ist mir wohl angeboren.“
Sie wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als der Händler sie noch einmal zurückhielt. „Wenn ich Euch noch einen Tipp geben darf, Mylady: Ihr solltet gut auf Eure Geldbörse achten. Es gibt hier viele Diebe. Ich denke in Eurem Dorf sollte Diebstahl kein großes Problem gewesen sein, hier jedoch … Seid auf der Hut!“
„Das ist sehr freundlich, danke.“ Isa nickte ihm zu und ging weiter durch die Straßen und an den Ständen vorbei.
Sie sah noch viele andere wundervolle Dinge: schillernde Muscheln und getrocknete Seesterne in großen Körben. Doch auch wenn sie eigentlich genügend Geld bei sich gehabt hätte, kaufte sie nichts davon. Sie war es nicht gewohnt, verschwenderisch mit Münzen umzugehen, und das meiste war nur sinnloser Plunder, der vielleicht schön aussah, aber eigentlich nichts taugte.
Mittlerweile war die Mittagszeit angebrochen und die Hitze war nahezu unerträglich. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel und der Schweiß lief in Strömen über Isas Gesicht. Langsam ging sie von Stand zu Stand und verweilte immer länger im Schatten der Planen, sich heftig Luft zufächernd.
Ihr Kleid drückte ihre Lungen zusammen und lenkte fast ihre gesamte Konzentration auf die Atmung. Aber dennoch meinte sie plötzlich, einen Blick im Rücken zu spüren, und drehte sich langsam um. Sie war sich sicher, dass sie beobachtet wurde, konnte unter den vielen Leuten jedoch niemanden entdecken, der sich auffallend verhielt. Seltsam …
Sie drehte sich wieder zurück und ging weiter. Vielleicht hatte sie sich getäuscht und es war purer Zufall gewesen, dass sie jemand etwas länger angestarrt hatte. Wieso auch nicht? Das konnte auf einem Markt schnell passieren. Während sie sich mühsam durch die große Menschenmenge drückte, wurde sie dennoch das Gefühl nicht los, dass derselbe Mensch sie noch immer beobachtete.
Und dann, in einem Moment, in dem ihre Gedanken weit abschweiften, spürte sie ganz plötzlich ein leichtes Ziehen irgendwo in der Magengegend und ihr Inneres schrie auf.
Mehr instinktiv als bewusst drehte sie sich um und erstarrte: Ein etwa gleichaltriger Junge mit braunem, in alle Richtungen abstehendem Haar stand hinter ihr. Er trug verschlissene Kleidung und in seiner Hand hielt er … eine blaue Tasche. Isas blaue Tasche.
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