1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Ein verfallener, alter Hof zog am Fenster vorüber. Er war bis auf die Grundmauern niedergebrannt und wirkte verlassen wie auch viele andere Bauten in der Gegend. Sie waren Zeugnisse der blutigen Auseinandersetzungen in der Zeit der Eroberung, als König Salsar mit seiner mordenden und brandschatzenden Armee diesen Weg eingeschlagen hatte. Niemand hatte sich danach jemals die Mühe gemacht, die Höfe wieder aufzubauen, deren Bewohner in den Flammen umgekommen, ermordet worden oder geflohen waren.
Doch mochten auch noch so schlimme Geschichten diesen Teil, wie auch viele andere Orte Arias, überschatten, Isa mochte die wunderschöne Landschaft.
Die Natur war geprägt von grünen, saftigen Hügeln, auf denen sich die Grashalme sanft im Wind wiegten, gespickt mit kleinen Wäldchen und prachtvollen Blumenwiesen, deren Duft durch das offene Fenster der Kutsche hineinwehte.
Die Tage wurden zusehends wärmer und der Himmel erstreckte sich wolkenlos bis zum Horizont. Der Frühling neigte sich seinem Ende zu und der Sommer kündigte sich unmissverständlich an.
Isa seufzte glücklich, als ihre Gedanken dem Verlauf der Jahreszeiten folgten. Nach dem Sommer würde der Herbst wiederkommen, der wunderbare Herbst, den sie am allerliebsten mochte und alljährlich wieder und wieder herbeisehnte. Denn dann, wenn der Wind stärker blies, dann, wenn sich die Blätter verfärbten und die Landschaft in einen Flickenteppich aus Gelb, Orange und Rot getaucht war, dann fühlte sie sich geborgen.
Vega und Massimo redeten auf der ganzen Reise nicht besonders viel. Vielleicht waren sie von schweigsamer Natur, vielleicht hatten sie auch einfach nur Angst, belauscht zu werden. Doch was auch immer es war, das Mädchen war eigentlich ganz froh über die Ruhe. So blieb ihm alle Zeit der Welt, die Flut an Gedanken und Gefühlen zu ordnen, die es einfach nicht loslassen wollten.
Nur zwei Themen, von denen sie wusste, dass die beiden Erwachsenen ihr bestimmt mehr darüber hätten erzählen können, interessierten Isa brennend: die Amulettmagier und das Alaista Karantan. Liebend gerne hätte sie mehr darüber in Erfahrung gebracht, doch Vega und Massimo schwiegen beharrlich und schüttelten nur den Kopf, wenn sie darauf zu sprechen kam.
So war das einzig Nützliche, das sie erfuhr, dass Vega und Massimo einen leiblichen Sohn mit grün leuchtenden Augen und eine Adoptivtochter mit roten Augen hatten.
Das Mädchen, das die leibliche Tochter von Vegas einziger Schwester war, hatten sie bereits kurz nach seiner Geburt bei sich aufgenommen. Es war ein Waisenkind, denn seine Eltern waren bei einem tragischen Vulkanausbruch in der Stadt Neosis ums Leben gekommen.
Über den vierten und letzten Amulettmagier schließlich (hier bestätigte sich Isas Annahme, dass die beiden mehr wussten, als sie preisgeben wollten) konnten sie nicht viel sagen.
Sie wussten nur, dass er ein 13-jähriger Junge mit meeresblauen Augen sein musste. Wo er sich befand, davon hatten sie nicht die geringste Ahnung. Doch sie schienen sich nicht allzu große Sorgen darüber zu machen.
„Wir werden ihn finden, keine Angst“, erklärte Vega zuversichtlich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Suchen müssen wir ihn nicht, denn es gibt gewisse Hinweise, dass wir ihm schon sehr, sehr bald begegnen werden.“
Am Abend des vierten Tages tauchte eine riesige grüne Wand aus Bäumen vor ihnen auf. Majestätisch und dunkel ragte sie in den Himmel empor wie die unbezwingbare Mauer einer Festung.
„Hier beginnt der Wald der ewigen Dunkelheit“, erklärte Massimo gedämpft und blickte Isa tief in die Augen. „Er ist der größte seiner Art, geheimnisumwittert und voller Gefahren. Wir werden nahe am Waldrand bleiben, auch wenn dies ein Umweg von einigen Tagen bedeutet. Es gibt nämlich keinen Pfad, der hindurchführt, und niemand, der ganz bei Verstand ist, würde jemals auch nur versuchen, diesen verfluchten Ort zu betreten.“ Bedeutungsvolles Schweigen folgte seinen Worten und Isa lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auch sie hatte schon von diesem Wald gehört: Im Volksmunde nannten ihn alle einfach nur den Wald der Geister. Niemand, der ihn betrat, kehrte jemals zurück …
Die Kutsche fuhr durch eine schmale Lücke mitten hinein in das grüne Dickicht des größten Waldes von Aria. Sofort kehrte vor den Fenstern des Pferdewagens die Nacht ein, denn obwohl sie nahe am Waldrand fuhren, kam kaum ein Lichtstrahl durch das dichte Blattwerk, und je weiter sie sich ins Innere wagten, desto dunkler wurde es.
Nicht, dass diese Dunkelheit für Isa einen großen Unterschied zum Tageslicht bedeutet hätte, nein, aber nur schon das Wissen, wie wenig Vega, Massimo und jeder andere Mensch hier drinnen sehen konnten, ließ sie frösteln.
Der Wald besaß eine üppige Vegetation: Bäume lagen kreuz und quer, Moose bedeckten den Boden und Farnkraut wucherte, so weit das Auge reichte. Isa war umgeben von lebendigem Grün, durch ihre Nachtsicht in einem leichten Blaustich gezeichnet. Doch nach und nach wurde es noch dunkler und alles, mit Ausnahme der großen Bäume, die das Licht nahmen, wurde karger.
Nach Massimos Ausführungen hatten sie nun den unheimlichsten Teil des Waldes erreicht. Die Feuchtigkeit war hier beinahe unerträglich. Unheimliche Geräusche drangen an Isas Ohren und sie fühlte sich unangenehm beobachtet.
Die Äste der Bäume griffen wie Finger nach der Kutsche und manchmal streiften sie das vergoldete Holz mit einem knirschenden Geräusch, als würden sie diese aufhalten wollen.
Angespanntes Schweigen herrschte in der Kutsche. Mit der Zeit machte Isa das so nervös, dass sie das Amulett aus ihrer Tasche holte, um es zu betrachten und unruhig zwischen den Fingern hin und herzudrehen.
In der Dunkelheit des Waldes leuchtete es in einem faszinierenden Blauton und Isa spürte wieder das Kribbeln und die Wärme auf ihrer Haut. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit machte sie schließlich ganz schläfrig. Langsam dämmerte sie hinweg, war bereits an der Grenze zwischen Wachen und Schlafen, ehe … Ein starker Ruck ließ die Kutsche erbeben und Isa war wieder hellwach. Alarmiert blickte sie um sich. Die Kutsche war zum Stehen gekommen.
Wieso hielten sie hier, mitten im Wald? Waren sie auf der von Schlaglöchern übersäten Straße stecken geblieben? Fragend blickte sie zu Massimo. Dieser hatte seine Augen zusammengekniffen und spähte besorgt aus dem Fenster.
„Da liegt ein Baumstamm auf der Straße“, raunte er seiner Frau zu. „Sollen wir ihn wegschaffen?“
Doch Vega schüttelte ernst den Kopf und bedeutete ihm, still zu sein. Dann formte sie mit ihren Lippen nur ein einziges Wort: „Räuber.“
Isa wäre vor Schreck beinahe das Herz stehen geblieben. Sie hatte schon schlimme Geschichten über dieses Gesinde gehört, über ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit …
Erneut blickte sie zu ihrem Pflegevater.
Dieser hatte keine Miene verzogen. Er nickte Vega grimmig zu, dann zog er etwas Blitzendes hervor. Isa erkannte entsetzt, dass es ein Dolch war. Seine Frau hatte sich keinen Millimeter bewegt und blinzelte nicht ein einziges Mal. Hoheitsvoll wie immer wartete sie ab. Ihr Gesicht war unergründlich.
Erneut spähte das Mädchen nach draußen. Ihm fiel auf, wie still es plötzlich geworden war. Nichts und niemand bewegte sich. Kein Rascheln war mehr zu hören. Isa wagte kaum, zu atmen.
Dann plötzlich kam Bewegung in den Wald. Männer sprangen laut schreiend von den Bäumen, stürzten aus getarnten Verstecken und umstellten den Wagen innerhalb eines Sekundenbruchteils. Waffen klirrten, als sie gezogen wurden.
„Dies ist ein Überfall! Alles aussteigen! Widerstand ist zwecklos!“, rief ein Mann schließlich mit rauer Stimme.
Isa war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Wie schon so oft an diesem Tag blickte sie Massimo hilflos an, der gerade sein Messer auf den Platz neben sich gleiten ließ. Mit einem leichten Nicken bedeutete er ihr, dass sie tun sollte, was die Räuber verlangten.
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