„Gib mir das Amulett! Sofort!“
Zwei Männer näherten sich ihr von der Seite und zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Isa kniff zornig die Augen zusammen, als sie ihre Absicht erkannte.
„Nein, das werdet ihr nicht tun!“ Mit gewaltiger Kraft schleuderte sie ihre Magie gegen die Meuterer und fegte die beiden mühelos über Bord. Währenddessen hatte der Mann, den sie noch immer nach unten drückte, versucht, ihr Amulett zu stehlen. Doch er hatte sie unterschätzt. Sie schlug ihm die Faust ins Gesicht und sein Kopf prallte hart auf dem Boden auf.
„Gib mir SOFORT das Amulett!“ Der Mann schwieg. Nun, wenn er es ihr nicht freiwillig geben wollte, musste sie es sich einfach selbst nehmen.
„Sarza erilon!“
Der Mann zuckte zusammen in der Erwartung, der Zauber hätte ihm gegolten. Erst dann bemerkte er, dass das Mädchen bereits wieder in der Luft schwebte. In einer Hand hielt es das Amulett des Jungen, die andere hatte es ausgestreckt. Seine Röcke wirbelten im Wind und seine Haare vollführten wie Schlangen einen Tanz um sein Gesicht. Der Matrose erzitterte beinahe vor Ehrfurcht. Das Mädchen sah aus wie eine wütende Göttin. Dann erfasste ihn ein starker Windstoß.
Als sie Jerinos Amulett in Händen hielt, schwebte Isa bereits wieder über dem Schiff. Der Mann, der es gestohlen hatte, blickte zu ihr hoch und sie glaubte, so etwas wie Ehrfurcht in seinem Blick zu lesen. Doch das war ihr egal! Mit einem wütenden Aufschrei und den passenden magischen Worten fegte sie ihn und alle übrig gebliebenen Matrosen über die Reling ins Meer. Dann ließ sie sich auf das Deck zurücksinken und versuchte vergeblich, ihr rasendes Herz zu beruhigen.
„Jerino, kannst du mich hören?“
„Isa?“
Seine Stimme erklang in ihrem Kopf. Glaubte sie das nur, oder hörte sie sich bereits etwas kräftiger an?
„Wie viele Matrosen sind bei euch?“
„Ich weiß nicht genau. Aber gegen unsere Magie haben sie keine Chance.“
Er hielt inne.
„Was ist passiert? Hast du diesen Lärm veranstaltet? Es hat sich angehört, als würde das ganze Schiff in Stücke gerissen werden!“
Seine Stimme klang amüsiert.
„Ich habe nur ein wenig aufgeräumt.“
Isa lächelte. „Ein wenig“ war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber egal.
„Hast du mein Amulett? Meine Kräfte erneuern sich so schnell, als würde ich es selbst bei mir tragen.“
„Natürlich.“
Isa drehte das warme Gold nachdenklich zwischen ihren Fingern.
„Wo genau seid ihr? Dann kann ich euch helfen.“
„Nicht nötig. Ich denke, ich schaffe das auch allein. Warte eine Minute, dann sind wir bei dir.“
„Verstanden.“
Isa nickte versonnen.
„Ihr findet mich auf Deck, und wenn du willst, kannst du die Meuterer hochschicken. Ich jage sie dann über die Reling zu ihren Freunden.“
Mit einem Blick auf das Wasser hinaus fügte sie hinzu:
„Sie haben sogar ein Boot dort draußen.“
Es musste sich gelöst haben, als ihr Wirbelsturm über das Deck gefegt war.
„Einverstanden. Ich schicke sie dir.“
Sie spürte, dass er lächelte.
Isa musste nicht lange warten. Schon kurze Zeit später hörte sie schnelle Schritte und ein einzelner Matrose rannte schreiend durch die Tür. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck blanken Entsetzens, und als er das Mädchen erblickte, stürzte er sich gleich freiwillig über die Reling ins Meer. Isa folgte ihm mit den Augen und runzelte die Stirn.
„Feigling“, murmelte sie. „Spielverderber.“
Kurz darauf vernahm sie weitere Schritte hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie Massimo, Jerino und den Kapitän auf sich zukommen. Jerino hatte eine Platzwunde am Kopf, Massimo trug einen blutgetränkten Verband um die Schulter und auch der Kapitän blutete aus zahlreichen kleineren Schnittwunden an Armen, Beinen und im Gesicht. Hatte es hier an Bord einen Kampf gegeben?
„Was ist passiert?“, fragte Isa erschrocken und blickte entsetzt auf das viele Blut. „Und wo ist Vega? Geht es ihr gut?“
Massimo lächelte schwach. „Sie ist seekrank wie immer, aber sonst geht es ihr gut.“ Der Mann schwankte etwas und stöhnte leise. „Ich muss mich hinsetzen.“ Erst jetzt sah Isa, wie blass er war.
„Er hat viel Blut verloren“, meinte Jerino vorsichtig. „Wir sollten die Wunde versorgen, ehe es noch schlimmer wird.“
Der Kapitän räusperte sich. „Ich muss zurück ans Steuer. Meine gute Veranza fährt schließlich nicht ohne jemanden, der sie führt.“
„Was ist mit den Verletzungen?“, fragte Isa besorgt, doch der Kapitän lachte sein dröhnendes Lachen.
„Meine Liebe, ich hatte schon wesentlich schlimmere Verletzungen als diese hier. Das sind nur kleine Kratzer, kein Grund zur Panik.“
Isa und Jerino brachten Massimo in den Speiseraum, den einzigen Ort, wo es eine Kiste mit Verbandszeug gab. Sie setzten den Mann auf einen der Stühle, wo er hoffnungslos in sich zusammensank.
„Also, was um alles in der Welt ist hier passiert?“, fragte Isa und blickte Jerino eindringlich an.
„Ich wollte dir folgen, weil du wütend warst, dass ich dir nichts von der Meuterei gesagt habe. Ich wollte dich beruhigen, doch ich hatte noch nicht einmal das Deck erreicht, als mich plötzlich jemand von hinten packte. Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen und dann wurde alles schwarz. Als du um Hilfe gerufen hast, bin ich gerade erst zu mir gekommen und habe bemerkt, dass mein Amulett verschwunden war und wir in eurer Kabine eingeschlossen waren.“
„Ich war zu der Zeit gerade beim Kapitän, weil mich die hohen Wellen, die der Sturm warf, faszinierten“, ergänzte Massimo mit leiser Stimme. „Dann sahen wir, wie du an Deck gerannt bist, Isalia. Der Sturm hat sich gelegt und du bist zur Reling gelaufen, ohne zu bemerken, dass dir ein Schatten folgte. Als du ihn dann doch entdeckt hast, bist du nach hinten getaumelt und ins Meer gestürzt. Wir wollten dir zu Hilfe eilen, doch da schnitten uns einige der Meuterer den Weg ab. Wir sind zurück ins gläserne Steuerhäuschen geflohen und haben uns dort eingeschlossen. Danach haben sie die Scheiben zertrümmert, uns mit Messern bedroht und eingesperrt.“
„Sind eure Verletzungen …?”
„Nicht nur wegen des zersplitterten Glases, wenn du das meinst …“ Mehr schien Massimo dazu nicht sagen zu wollen.
Isa nickte. „Sie haben euch also eingesperrt und niemand von euch konnte Magie anwenden. Jerino haben sie überrumpelt und Vega ist auch nicht in bester Verfassung.“
Jerino seufzte. „Ganz genau.“
Eine Weile später gingen Isa und Jerino schließlich an Deck. Das Mädchen hatte Massimos und Jerinos Wunden so gut wie möglich gesäubert und mit frischem Verbandszeug bandagiert. Nun konnte es nur noch hoffen, dass sich die Verletzungen nicht entzündeten.
Als die beiden Kinder an Deck standen, gab Isa Jerino sein Eigentum zurück. „Dein Amulett“, sagte sie und reichte es ihm mit einem freudigen Lächeln.
„Danke.“ Er hängte es sich um den Hals und strich liebevoll über die verzierte Oberfläche. Sein Haar flatterte im Wind und eine Welle brach sich am Bug, sodass sie mit feinen Wassertröpfchen überschüttet wurden.
Lächelnd beugte sich Isa über die Reling und beobachtete das aufgewühlte Meer.
„Wir können also in Gedanken miteinander sprechen“, stellte sie leise fest. „Ist das zu glauben?“
Jerino schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich“, gestand er und dachte an die aufregenden letzten Tage zurück. „Aber langsam wundere ich mich über gar nichts mehr.“
*
Rot wie Feuer, Grün wie Erde
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