Mit erhobenem Waschlappen trat ich auf ihn zu. „Das wird wahrscheinlich ein bisschen brennen“, murmelte ich unbehaglich.
Er zuckte die Achseln. „Das halt ich schon aus“, lallte er.
Ich beugte mich über ihn, ignorierte die Tatsache, dass ich Herzklopfen bekam, wenn ich ihm so nahe war, und machte mich behutsam daran, das Blut von seinem Gesicht zu wischen. Hin und wieder stöhnte er leise auf, doch er war wirklich tapfer, wofür ich ihn bewunderte. Vielleicht war er vom Alkohol auch so betäubt, dass er gar nichts mitbekam. Ich wunderte mich darüber, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, obwohl er nach Schweiß, Alkohol und Zigarettenrauch stank und sein Gesicht wohl noch nie unattraktiver ausgesehen hatte. Es wirkte asymmetrisch durch die Schwellungen und Schrammen und das eine Auge war so zugeschwollen, dass er vermutlich gar nichts mehr damit sehen konnte.
Nachdem ich sämtliches Blut fortgewischt und die Blutung der Nase zum Stillstand gebracht hatte, betrachtete ich ihn prüfend. Er sah nicht wirklich besser aus, auch wenn das Blut weg war. Er brauchte etwas Eis fürs Auge und ich sollte irgendwas gegen die Schwellung des Gesichts unternehmen.
Oben auf dem Regal neben sämtlichen Cremes und Döschen und Flaschen fand ich unseren Verbandskasten mit Desinfektionsspray, Kompressen, Pflastern und einer Arnikacreme. Soweit ich wusste, half die gegen Schwellungen. Ich las mir die Rückseite der Packung durch und richtig: Sie half gegen Prellungen und Schwellungen.
Nachdem ich Christophers Kratzer über der Augenbraue sorgfältig desinfiziert und verpflastert hatte, schmierte ich sanft Arnika auf seine pulsierenden Wangenknochen und die Lippe, dann half ich ihm aufzustehen und führte ihn die Treppe wieder hinunter, wobei ich nicht zum ersten Mal Todesangst empfand. Ich fragte mich, wie viel er wohl getrunken hatte, dass er so hinüber war. Wie viel Promille er wohl hatte? Zwei? Mehr? Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können ... Er hätte vor ein Auto laufen können oder jemand hätte ihn ausrauben, anschließend ermorden und die Leiche irgendwo entsorgen können. Keiner hätte sich um ihn gesorgt, keiner hätte sich die Mühe gemacht, ihn zu suchen. Ich kämpfte mit den Tränen und wunderte mich darüber. Chris lag mir nicht am Herzen, er war mir nicht wichtig. Warum nahm mich das alles so mit?
Weil ich kein Unmensch war. Weil er mir leidtat, da er offensichtlich niemanden hatte, der sich um ihn sorgte, sich seiner annahm. Ich fragte mich, was wohl aus Olivia geworden war. Warum war sie nicht da, wenn er sie brauchte? Warum hatte sie ihn allein stehen lassen? In seinem Zustand? In diesem Moment verabscheute ich sie noch mehr als je zuvor.
Wir kamen in meinem Zimmer an, und obwohl es mir sonst immer etwas unangenehm war, einen Jungen zum ersten Mal in meine vier Wände zu lassen, in meine Privatsphäre, war es mir an diesem seltsamen Morgen vollkommen gleichgültig. Ich verfrachtete Chris, der sich mittlerweile mit seinem ganzen Gewicht auf mich stützte und mindestens eine Tonne wog, auf mein schwarzes Schlafsofa, zuerst jedoch musste ich Schaf und Teddy runterkicken, meine Kuscheltiere, die dort sonst immer saßen. Ich deckte ihn zu und huschte noch mal in die Küche, um eine große Flasche Wasser und Eis für sein Auge zu holen, das ich in ein Handtuch wickelte.
Schließlich kniete ich neben ihm, half ihm beim Trinken und fühlte mich merkwürdig. Wie ich da so auf ihn hinabblickte und zusah, wie er mühsam trank, wie die Hälfte danebenging und ihm in Sturzbächen übers Gesicht lief, entwickelte ich zärtliche Gefühle für ihn. Ich hatte das dringende Bedürfnis, für ihn da zu sein, ihn zu beschützen, und kam mir dabei unbeschreiblich dämlich vor. Christopher Waldoff brauchte niemanden, der ihn beschützte, schon gar nicht mich. Aber an diesem Morgen war alles anders. Jetzt war er nicht der arrogante Kotzbrocken, sondern ein hilfsbedürftiger Junge, der meine Unterstützung brauchte.
Als er fertig getrunken hatte, schraubte ich die Flasche zu, stellte sie auf den Boden und breitete die Decke über ihm aus. „So“, flüsterte ich, „jetzt solltest du schlafen.“ Ich zog rasch die Vorhänge zu und sperrte so das Sonnenlicht aus, das zusammen mit Vogelgezwitscher und dem ersten Verkehrslärm durch das dünne Glas meines Fensters drang. Die Welt wachte auf. Das normale Leben begann und diese seltsame Nacht war vorüber. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder traurig sein sollte.
Ein letztes Mal ging ich zu Chris, um zu sehen, ob er alles hatte, was er brauchte. Er hatte die Augen schon leicht geschlossen, seine Lider flatterten, als ich mich kurz über ihn beugte und lächelte. „Schlaf gut, Christopher“, hauchte ich.
Er streckte matt den Arm nach mir aus. „Bleib“, murmelte er. „Bitte bleib!“
Mein Herz setzte einen Schlag aus, mir wurde ganz warm in der Magengegend, als er meine Hand nahm und mich zu sich zog. Ganz still harrte ich neben ihm aus, wagte nicht, mich zu rühren. Er gab mir ein Stück des dünnen Lakens ab, das ich als Decke für ihn verwendet hatte.
„Danke“, murmelte ich mit heftigem Herzklopfen, mein Kopf war voll mit Gedanken, die ich nicht haben sollte, mein Inneres voll mit Gefühlen, die ich nicht empfinden sollte. Ich fühlte mich zerrissen, völlig aus dem Konzept gebracht und fragte mich, was Timo davon halten würde, sähe er mich hier so liegen. Er würde auf der Stelle Schluss machen, das stand fest. Ich erschauerte und im nächsten Augenblick lag Chris’ heißer Arm um meine Taille, er zog mich enger an sich. Ich hielt vor Schreck den Atem an und verkrampfte mich.
„Ist schon okay“, nuschelte Chris, „ich wärme dich nur. Alles gut.“
Allmählich entspannte ich mich in seiner Umarmung, atmete so ruhig wie möglich weiter und bemühte mich darum, nicht an Timo zu denken. Das hier war kein Betrug. Ich war nur für Chris da, weil er jemanden brauchte ... weil er mich jetzt brauchte. Wir waren keine Freunde. Wir waren quasi Fremde, auf der Abiturfeier hatte ich das erste Mal überhaupt mit ihm gesprochen. Gott, das war alles so verrückt! Und jetzt, nur ein paar Stunden später, lag er hier auf meiner Couch und hatte den Arm um mich gelegt. Himmel!
Mein Rücken war an seine Brust gepresst und die Hitze seines Körpers sprang auf meinen über. „Du bist total nett“, murmelte er schläfrig in mein Haar und ich spürte, wie mir köstliche heiße Schauer über den Rücken rannen. „Warum bist du nicht schon früher gekommen, mein Engel?“
Sein Engel? Oh Mann, wie betrunken war der denn? Oder ... war er am Ende gar nicht so arg betrunken? Wusste er noch, was er da sagte?
„Weil du bisher lieber mit Mädchen wie Olivia abgehangen bist“, flüsterte ich mit wild pochendem Herzen, als ich spürte, wie er nach meiner Hand griff. Unsere Finger verschränkten sich ineinander. Ich dachte nicht mehr an Timo. Nur noch an Christopher, an ihn und mich, uns, Hand in Hand, Arm in Arm, während draußen Menschen auf die Straße traten, Kindergeschrei und Hundegebell laut wurden und der Geruch von Kaffee nach oben waberte. Unten im Erdgeschoss konnte ich Stimmen hören. Meine Eltern waren wach und schon auf den Beinen. Gott, hoffentlich kamen sie nicht hoch. Ich wollte gar nicht wissen, was sie hiervon halten würden ...
Ich sollte wirklich aufstehen und in mein Bett kriechen, ich sollte schlafen und vergessen, dass Chris auf meiner Couch lag ... aber ich wollte nicht. Schlicht und einfach. Ich wollte nicht aufstehen, wollte seinen Arm nicht von mir schieben, seine Hand nicht loslassen, ich wollte nicht die Hitze seines Körpers an meinem Rücken missen, ich wollte, dass alles so blieb, wie es gerade war. Weil es ein wunderschönes Gefühl war.
Ich kuschelte mich enger an ihn. „Was findet ihr Jungs nur an Mädchen wie Olivia?“, murmelte ich müde und streichelte mit dem Finger seinen Handrücken. Er hatte eine kleine Narbe unterhalb des Daumens und ich fragte mich, wo die wohl herkam. Eigentlich hatte ich keine Antwort erwartet, doch ich bekam eine, postwendend. „Sie ist sexy. Hat geile Titten und ’nen tollen Arsch. Gut im Bett. Schönes Gesicht.“
Читать дальше