„Ja. Der bin ich“, lallte er, kniff die Augen zusammen und versuchte offensichtlich, sich zurechtzufinden, herauszubekommen, wie er in diese missliche Lage geraten war.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich, nach wie vor nicht ganz Herrin der Lage, und half ihm ungeschickt dabei, sich aufzusetzen, wobei ich beinahe auf ihn fiel. Er war ziemlich schwer, hatte ordentlich Muskelmasse. Dem Fitnessstudio sei Dank.
„Ich ... äh ... hab keine Ahnung“, nuschelte er, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und betrachtete interessiert die Blutspur auf seiner Hand. Ich unterdrückte einen Würgereiz, der Anblick von Blut hatte mir noch nie behagt. „Ich hab mich wohl verlaufen“, murmelte er und versuchte sich aufzurichten, schwankte aber nur wie die Titanic nach der Begegnung mit dem Eisblock und plumpste wieder auf den Hosenboden.
„Warte, ich helfe dir“, sagte ich eilig, griff nach seinem Arm, legte eine Hand auf seinen Rücken und gab ihm den Halt, den er brauchte, um halbwegs sicher auf seinen Beinen stehen zu bleiben.
„Danke, eh“, murmelte er und fuhr sich durch die Haare. Dann sah er sich um, doch das Licht der Straßenlaternen schien ihn zu blenden, denn er bedeckte seine Augen. „Scheiße, eh, wo bin ich hier nur?“, murmelte er verwirrt.
Bereitwillig nannte ich ihm den Namen der Straße, woraufhin er mich ansah, als wäre ich ein Außerirdischer.
Fast hätte ich „Ich komme in Frieden, Erdling“ ausgerufen, doch ich hielt mich zurück. Das hier war wirklich schon abstrus genug. Da stand ich zu nachtschlafender Zeit mit dem begehrtesten und arrogantesten Jungen der Schule auf offener Straße, während er aussah, als wäre er gerade zusammengeschlagen worden, voll war wie eine Strandhaubitze und weder er noch ich wussten, was wir tun sollten. Verdammt, das glaubte mir doch kein Mensch! Ein Lachkoller bahnte sich an, doch ich drängte ihn gewaltsam zurück. Das hier war nicht zum Lachen.
Fragend blickte ich zu ihm auf. „Erinnerst du dich, wo du hinwolltest? Nach Hause vielleicht?“
„Nach Hause?“ Er schnaubte abfällig. „Ich hab kein Zuhause mehr.“
Oh, oh, das klang gar nicht gut! Herr Waldoff war allem Anschein nach nicht begeistert gewesen über das Zeugnis seines Zöglings, aber dass er ihn gleich rauswarf, fand ich schon ziemlich hart. Wie sollte Chris denn alleine zurechtkommen, wenn er schon am ersten Abend besoffen und blutverschmiert auf irgendeiner ihm fremden Straße zusammenbrach?
„Okay, äh ... und von wo kommst du? Kannst du dich daran noch erinnern? Oder warum du so aussiehst?“ Ich deutete auf sein ramponiertes Gesicht. „Hast du dich mit jemandem geprügelt?“
Statt einer Antwort stöhnte er laut auf und hielt sich den Kopf. „Au, mein Schädel“, stöhnte er.
„Tja, kommt davon“, erwiderte ich mitleidlos. „Warum säufst du dir auch sämtliche Gehirnzellen weg? Jetzt kannst du dich nicht mal mehr dran erinnern, ob du gegen einen Laternenpfahl gelaufen bist oder dich geprügelt hast.“
„Oh Mann.“ Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Ich versteh nicht mal die Hälfte von dem, was du da redest, Mädchen. Hast du zufällig ’n Auto?“
Hatte er zufällig den Verstand verloren?
„Ein Auto, wofür brauchst du denn ein Auto?“, wollte ich verdattert wissen.
Er rollte mit den Augen und redete direkt über meinen Kopf hinweg mit dem Pfahl der Straßenlaterne. „Zum Weitwurfüben ... Meine Fresse, wofür braucht man ein Auto? Zum Fahren natürlich! Also?“
„Du fährst sicher heute nirgendwo mehr hin, schon gar nicht mit unserem Auto. Du hast bestimmt zwei Promille“, meinte ich streng und sah nachdenklich zum Haus hinüber. Das Licht auf der Veranda brannte, Flocke wartete schwanzwedelnd auf mich und ich hatte nicht vor, hier noch ewig stehen zu bleiben. Peter Mahler, der Nachbar zu meiner Linken, verließ immer bereits um halb sechs das Haus und machte sich auf den Weg zur Arbeit, auch samstags. Ich wollte nicht, dass er mich hier mit einem betrunkenen Jungen rumstehen sah, das würde mein Image als braves Mädchen von nebenan schädigen.
„Hör ma“, verkündete Chris und sah mich aus seinen dunklen Augen durchdringend an.
Ich bekam Gänsehaut und mir wurde heiß unter seinem Blick. Wenn man genau hinsah, konnte man um seine zu groß wirkenden Pupillen herum goldene Pünktchen erkennen.
Einen Moment lang schien er den Faden verloren zu haben, während er mir in die Augen sah. Dann räusperte er sich und verkündete fest: „Du bist nicht meine Erziehungsberechtigte. Es geht dich ’nen Scheiß an, wie viel ich trinke. Kapiert, Rotschopf?“
Oh, okay, jetzt wurde er also beleidigend. Wütend funkelte ich ihn an. „Weißt du was, Christopher, es interessiert mich nicht die Bohne, wie viel du trinkst, ob du Drogen nimmst oder sonst irgendeine Scheiße machst, aber unser Auto steht für dich nicht zur Verfügung. Vielleicht tanzen alle anderen Mädchen immer nach deiner Pfeife, aber ich bestimmt nicht. Sieh zu, wie du allein klarkommst, ich geh ins Bett.“
Damit wollte ich mich umdrehen und weggehen, doch Chris sagte: „Warte!“, taumelte auf mich zu, verlor den Halt und fiel mir entgegen. Automatisch machte ich einen Satz nach vorn und breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen. Wir wären beide zu Boden gestürzt und hätten uns dabei sämtliche Rippen gebrochen, wäre nicht hinter uns eine Mauer gewesen. Ich spürte spitze Steine, die sich mir in den Rücken bohrten, gleichzeitig aber auch den sicheren Halt und atmete erleichtert auf. Meine Arme lagen um Christophers Taille und seine Hände umklammerten mit einem schraubstockartigen Griff meine Schultern. Wir atmeten beide schwer, mein Herz raste, nicht nur von dem Schreck, sondern auch ob der plötzlichen Nähe zwischen uns. Die Hitze seines Körpers sprang direkt auf mich über.
Ich hob zögernd den Blick und stellte fest, dass er mich ansah. In seinen Augen lag mit einem Mal Wärme, er lächelte schief und seine Lippe war in etwa doppelt so dick wie vorher. Aber alles in allem hatte er einen schönen Mund, die Oberlippe klein und geschwungen, die Oberlippe voll ... sehr einladend. Moment mal, was dachte ich denn da?
Chris begann zu kichern und tippte mir mit einem Mal auf die Stirn. „Es sieht aus, als hättest du drei Augen“, gackerte er albern.
Der nahe Moment zwischen uns war vorüber und mir war klar, wie dicht und vermutlich auch mit Drogen zugedröhnt Chris war. Er redete total verwaschen, sodass man ihn kaum verstehen konnte, seine Augen blickten plötzlich in zwei verschiedene Richtungen und er war kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Außerdem war er verletzt. War ja auch vollkommen egal, woher diese Wunden kamen (von einer Schlägerei, dessen war ich mir sicher und hoffte mit einer Inbrunst, die mich selbst überraschte, dass der andere schlimmer aussah), jedenfalls würde ich ihn hier nicht einfach stehen lassen.
Sanft hakte ich mich bei ihm unter. „Komm mit“, sagte ich flüsternd, „ich bring dich erst mal ins Haus. Wir müssen uns deine Verletzungen ansehen.“ Er wehrte sich nicht, als ich ihn mit mir zog. Er war ohnehin nicht mehr besonders widerstandsfähig.
Mit dem Fuß stieß ich das Gartentor auf, Flocke sprang aufgeregt beiseite und kläffte leise, doch nachdem ich „Pscht!“ gezischt hatte, war sie zum Glück still.
Ich führte Chris die wenigen Stufen zur Veranda hinauf und umklammerte dabei so fest seinen Arm, dass ich vermutlich die Blutzirkulation abquetschte, doch ich wollte auf keinen Fall, dass er noch mal fiel.
Es war mühsam, ihn die steile Wendeltreppe nach oben ins Badezimmer zu führen, ich hatte Angst, dass er stürzte oder wir Lärm machten und meine Eltern aufweckten. Als wir endlich oben anlangten, war ich schweißgebadet. Ich bugsierte ihn ins Badezimmer und schloss die Tür ab, Flocke wartete draußen auf uns. Ich half Chris dabei, sich auf den heruntergeklappten Toilettensitz zu setzen, öffnete eine Schublade an einer Kommode aus dunklem Eichenholz und förderte einen Waschlappen zutage. Ich machte ihn nass, atmete tief durch und drehte mich zu Chris um. Er hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt und starrte blicklos ins Leere.
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