§ 2 Das Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG
A. Anwendbarkeit neben den speziellen Vergütungsvorschriften
Die Vorschrift des § 78 S. 2 BetrVG legt fest, dass Mitglieder des Betriebsrates (sowie die in dem Satz 1 aufgezählten geschützten Funktionsträger) wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden dürfen, auch nicht im Hinblick auf ihre berufliche Entwicklung. Es handelt sich dabei um eine allgemeine Schutzvorschrift für Betriebsräte, weshalb teilweise ihre Anwendung in der gesamten Mitbestimmungsordnung verlangt wird.303 Das BAG versteht sie als eine der „grundlegenden Bestimmungen des Betriebsverfassungsrechts.304 Für die Vergütung von Betriebsratsmitgliedern enthält das Betriebsverfassungsgesetz in § 37 BetrVG aber eigenständige und spezielle Regelungen. Daher ist zunächst entscheidend, ob die allgemeinen Verbote des § 78 S. 2 BetrVG gleichermaßen auf Vergütungssachverhalte anwendbar sind und sie bei der Entgeltbemessung Berücksichtigung finden müssen.
I. Überblick über die Einordnung in Literatur und Rechtsprechung
In Literatur und Rechtsprechung wird das Verhältnis der beiden Vorschriften nur selten näher beleuchtet. Wenn Aussagen dazu getroffen werden, erfolgen sie überwiegend ohne nähere Begründung. Die Terminologie, die zur Bezeichnung der Beziehung der Vorschriften zueinander verwendet wird, ist nicht einheitlich, sondern es werden unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet. Es scheint herrschende Meinung zu sein, die spezielle Vergütungsnorm des § 37 BetrVG als Konkretisierung der Regelung in § 78 S. 2 BetrVG anzusehen.305 Sie wird auch als Ausprägung des allgemeinen Verbotes bezeichnet.306 Teilweise wird § 78 S. 2 BetrVG als Ergänzung des § 37 BetrVG307 sowie als Auffangvorschrift308 verstanden. In einer sehr frühen Entscheidung bezeichnete das BAG den § 37 Abs. 3 BetrVG gegenüber dem allgemeinen Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot – damals noch in § 53 BetrVG 1952 geregelt – als „Spezialvorschrift“, die dem allgemeinen Verbot vorgehe und sie verdränge.309 Dem entsprechend wird die Vorschrift des § 37 BetrVG auch als lex specialis gegenüber § 78 S. 2 BetrVG angesehen.310
Betrachtet man die unterschiedlich verwendete Terminologie, bleibt offen, welche Schlüsse sich aus der jeweiligen Bezeichnung für das Verhältnis von § 37 und § 78 S. 2 BetrVG ziehen lassen. In erster Linie geht es um die Beantwortung der Frage, ob die beiden Regelungen nebeneinander anzuwenden sind. Auch darüber besteht keine Einigkeit, sondern es werden unterschiedliche Ansätze verfolgt. So kommt es in der Literatur nicht selten vor, dass aus den genannten Begrifflichkeiten, aus denen genaue Konsequenzen für die Anwendbarkeit zweier Vorschriften folgen würden, diese kaum näher präzisiert, teilweise vermengt oder nicht angewendet werden. Zusammenfassend lässt sich folgender Überblick über die verschiedenen vertretenen Standpunkte darstellen:
Eine Richtung in Literatur und Rechtsprechung kommt zu dem Ergebnis, dass das allgemeine Benachteiligungs- und Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG auch neben den spezielleren Vergütungsvorschriften anwendbar bleibt.311 Das wird teilweise ausdrücklich klargestellt, indem von den allgemeinen Verboten ebenso das Entgelt von Betriebsratsmitgliedern erfasst sein soll.312 Aber auch die Ansicht, dass die Norm des § 37 BetrVG keine abschließende Regelung über die Höhe des Entgeltes von Betriebsratsmitgliedern enthalte, führt zu dem Ergebnis der gleichzeitigen Anwendbarkeit.313 Demgegenüber wird aber auch vertreten, dass § 37 BetrVG als speziellere Regelung der allgemeineren Vorschrift des § 78 S. 2 BetrVG vorgeht314 bzw. diese verdrängt315 sowie dass diese gegenüber Sonderregelungen subsidiär316 ist. Unabhängig von der Einordnung werden die allgemeinen Verbote des § 78 S. 2 BetrVG häufig auch als Auslegungskriterium bei den speziellen Vergütungsvorschriften herangezogen.317
Der Überblick zeigt nicht nur, dass die in der Literatur und Rechtsprechung verwendete Terminologie sich teilweise stark unterscheidet. Erstaunlich ist auch, dass kaum eine der verschiedenen Meinungen näher darauf eingeht, welche Konsequenzen hinsichtlich der Anwendung beider Vorschriften im Rahmen der Vergütung daraus zu ziehen sind. Für die richtige Anwendung der Rechtssätze bei Vergütungssachverhalten ist daher eine genaue Betrachtung und Festlegung des Verhältnisses der beiden Normen erforderlich.
II. Das Verhältnis zwischen § 37 und § 78 S. 2 BetrVG
1. Einordnung des § 37 BetrVG als Ergänzung oder Konkretisierung des allgemeinen Verbotes
Zunächst sind die beiden Einordnungen der speziellen Vergütungsvorschrift als Ergänzung sowie Konkretisierung des § 78 S. 2 BetrVG zu betrachten. Die Annahme eines ergänzenden Charakters des § 37 BetrVG318 würde bedeuten, dass beide Vorschriften uneingeschränkt nebeneinander anzuwenden wären oder sogar gemeinsam betrachtet werden müssten. Denn eine Einstufung als Ergänzung erweckt den Eindruck, dass § 37 BetrVG in einer Weise unvollständig sei, dass § 78 S. 2 BetrVG diesen „fehlenden“ Teil regelt. Eine solche Einordnung lässt sich aus den Vorschriften allerdings nicht entnehmen und sollte in diesem Zusammenhang daher schon von vornherein abgelehnt werden.
Was dagegen genau unter dem Begriff der Konkretisierung zu verstehen ist bzw. welche Schlüsse daraus über die Beziehung zweier Vorschriften zueinander gezogen werden können, ist nicht eindeutig. Zwar wird die Bezeichnung für die Konstellation relativ häufig verwendet, eine genaue Definition oder Erklärung erfolgt jedoch nicht. Allein von der Bedeutung des Wortes her würde sich das Verhältnis so erklären lassen, dass eine allgemein gehaltene Norm durch eine konkretere Vorschrift für bestimmte Fälle näher bestimmt wird. Eine Ansicht im Schrifttum geht noch weiter und versteht eine Konkretisierung als eine Regelung, die sich aus dem Rechtsgedanken der zugrundeliegenden Generalklausel ableiten lässt und Rechtsfolgen für einen bestimmten Lebenssachverhalt bestimmt.319 In der juristischen Methodenlehre wird der Gedanke der Konkretisierung dagegen häufig nur für die Ausfüllung sehr allgemein gefasster Regelungen oder einer Generalklausel im Sinne einer Rechtsfortbildung herangezogen.320 Auch eine subsidiäre und damit nur nachrangige Anwendung der allgemeineren Vorschrift ließe sich aus einer solchen Einordnung ableiten.321
Es bleibt unklar, welche Folgerungen aus einer Konkretisierung für das Verhältnis und die Anwendbarkeit der beiden Vorschriften zu ziehen sind. Es handelt sich nicht um einen Begriff, der zur Bestimmung des Verhältnisses mehrerer Rechtssätze zueinander gebräuchlich wäre. Allerdings kommt eine Konkretisierung in dem dargestellten Sinne dem Verhältnis der Spezialität so nahe, dass beide Begriffe auch häufig gemeinsam in dem Zusammenhang – in der Methodenlehre sogar als Synonym –322 verwendet werden. Auch wenn damit der Terminologie der Konkretisierung für das Verhältnis der beiden Vorschriften offensichtlich keine eigenständige Bedeutung beigemessen wird,323 ist eine konkretisierende Eigenschaft des § 37 BetrVG gegenüber § 78 S. 2 BetrVG jedenfalls nicht passend und aufgrund der verbleibenden Unklarheiten im Ergebnis abzulehnen.
Die gezeigten Einordnungen als Ergänzung oder Konkretisierung helfen bei der Frage der Anwendbarkeit der beiden Rechtssätze nicht weiter. Vielmehr stellt sich in Fällen, bei denen grundsätzlich mehrere Vorschriften für einen Sachverhalt in Betracht kommen, die Frage der Konkurrenz dieser Normen.324
a) Beurteilung von Konkurrenzfragen im Privatrecht
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