Günter Struchen
Hauptkommissar
Theobald Weinzäpfli
und die vergifteten
Weggen von Meggen
Kriminalroman
Alle Figuren mit Ausnahme der Bewohner des Armenheims sind fiktiv.
Bezüge zu realen Personen sind in den Anmerkungen erläutert.
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern
Lektorat: Roland Schärer
Umschlag: Stephan Bundi, Boll
Einband: Schumacher AG, Schmitten
eISBN 978-3-305-00487-4
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die Jahre 2021–2024
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1. bis 4. Mai 1959
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
5. bis 12. Mai 1959
Kapitel 31
Kapitel 32
13. bis 16. Mai 1959
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Anmerkungen
Quellen
1. bis 4. Mai 1959
Kapitel 1
«Es bräuchte eigentlich kein Ortsschild, Meggen kann man bereits von Weitem riechen», scherzte jemand ein paar Sitzreihen hinter ihm. Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli erwachte abrupt. Die Stimme des Witzboldes kam ihm bekannt vor, er konnte sie aber keinem Namen zuordnen. Von allen Seiten her ertönte munteres Gigelen, das sich vom monotonen Röhren des Motors abhob. Dem Hauptkommissar war nicht nach Lachen zumute. Nicht, weil ihm der Humor der Polizisten ein Stägetrittli zu tief in Sachen Niveau angesiedelt gewesen wäre, aber er fühlte sich bedrückt. Grund war dieser eine Traum, den er seit einem halben Jahr regelmässig träumte. Er überraschte ihn in der Nacht oder beim Mittagsschlaf, am Wochenende oder während der Arbeit. An Feiertagen oder im Urlaub. Nun folgte er ihm offenbar sogar bis über die Grenzen seines Heimatkantons hinaus. Und der Traum fühlte sich schampar echt an. Noch immer glaubte er die Windböen zu spüren, die an seinen Haaren, an Hemd und Hose zerrten. Er meinte das Donnern zu hören und den Regen, der auf die Dächer des Dorfes niederprasselte. Und er spürte die Furcht in sich. Die Furcht vor diesem grossen Schatten, der ihm einmal mehr im Traum erschienen war. Er hatte sich ihm zwar zugewendet, doch noch bevor er hatte erkennen können, wer Urheber des Schattens war, war er erwacht. Auch dieses Mal. Es endete immer so. Weinzäpfli hatte bereits viele – zu viele Gedanken an den Traum verschwendet und ihn fiebrig zu deuten versucht, indem er ihn seziert hatte, wie es der Gerichtsmediziner Flückiger mit seinen Leichen tat. Aber er hatte resigniert. Diesen Traum würde er nicht durchschauen.
Weinzäpfli seufzte leise und öffnete seine Augenlider. Durch die Fensterscheiben erkannte er, dass sie soeben in einem Dorf eingefahren waren. Das Poschi fuhr durch eine Allee junger Linden, dann ging die Strasse in eine sanfte Kurve über und führte hinauf auf einen Hügel. Weinzäpfli bemerkte nicht, wie der Motor auf einmal auffällig lauter rumorte, denn die Aussicht, die sich ihm von hier aus präsentierte, war schlichtweg atemberaubend und verscheuchte sogar seine düstere Stimmung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es einen anderen Ort auf der Welt gab, an dem man auf einen einzigen Chlapf noch mehr und noch anmutigere Berge hätte sehen können. Hinter der glatten Oberfläche jenes Armes des Vierwaldstättersees, der in die Küssnachter Bucht mündete, reckte die Rigi ihr Haupt in den Himmel. Die Königin der Berge, ihr morgiges Ziel. Vom Kulm führte die Rigi wie der Buckel einer Katze in Richtung Südsüdwesten, wo sie naadisnaa zum See abfiel. Dann folgte eine Zilete schneebedeckter Berge, von denen Weinzäpfli nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie sie hiessen. Vor diesen trennte der Bürgenstock den Vierwaldstättersee in zwei Teile. Weit dahinter war das Stanserhorn zu sehen – im Umriss eine Art invertierte Rigi. Und noch weiter weg, schon fast vom Dunst erstickt, sah man tatsächlich Mönch, Eiger und Jungfrau. Der Blick des Hauptkommissars war noch nicht bis zum Pilatus gelangt, da gab es auf einmal einen lauten Chnutsch, die Reifen quietschten schrill und das Poschi bremste abrupt. Die meisten Tschugger konnten sich glücklicherweise noch rechtzeitig an der Kopflehne des Vordersitzes festkrallen und dadurch verhindern, aus ihren Sitzen katapultiert zu werden. Einzig der Krähenbühl Jacky wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Der langjährige Verkehrspolizist war gerade daran gewesen, sein Bagaasch nach dem Seckli Tabak zu durchwühlen, als die Kupplung des Poschis zerbarst wie ein Nüssli zwischen den Kiefern eines Panzernashorns. Er wurde durch den Gang nach vorne geschleudert, wo sich ihm erst mit der Frontscheibe ein Hindernis in den Weg stellte, das sowohl seine kinetische Energie wie auch den Wunsch nach einem Zigarettli nachhaltig auf null setzte. Dann stand das Poschi still. Und so kam es, dass die Polizisten des Postens Lorraine-Breitenrain in ebendiesem Dorf strandeten, über das sie sich lustig gemacht hatten.
Der Motor sprang nicht wieder an. Dafür wurde die Rauchsäule, die aus der Motorhaube aufstieg, grösser und grösser. Der Poschifahrer liess seinen Unmut am Lenkrad aus, aber das änderte nichts am Umstand, dass dieses Gefährt so schnell nicht wieder in die Gänge kommen würde. Die Berner Polizisten verstanden das sofort. Sie liessen den Fahrer töipelen und traten hinaus in den zauberhaften Frühlingsmorgen. Der Letzte, der das Poschi etwas ungelenk und mit leicht gekrümmter Haltung verliess, war Hauptkommissar Theobald Weinzäpfli. Er war es nicht gewohnt, im Bus oder Automobil zu fahren, sondern bevorzugte üblicherweise das Reisen auf seinem Pony – einem Tier, das er einst geschenkt bekommen und dem er den Namen Cinderella gegeben hatte. In diesem Augenblick, als er ins Sonnenlicht trat, wurde ihm bewusst, dass Cinderella, auch wenn sie um einiges langsamer war als ihre motorisierten Rivalen, den Vorteil besass, dass sich bei ihr kein Schräubchen lockern konnte. Oder zumindest kein wortwörtlich gemeintes. Weinzäpfli kicherte in sich hinein.
«Nicht New York, aber Meggen. Immerhin», hörte er die gleiche Stimme wie schon zuvor proleten und die üblichen Verdächtigen grölten drauflos. Die Tschugger waren zu gut drauf, um sich wegen einer Panne die Laune verderben zu lassen. Ein Grund für diese unbeschwerte Stimmung war wohl auch, dass sie auf der Hinfahrt bereits ordentlich gegüügelet und sich einen soliden Stüber angetrunken hatten.
Sie waren noch keine fünf Minuten an der frischen Luft, da kam ein Mann die Strasse hochgerannt, der im Nu die Aufmerksamkeit aller erlangte, weil er, einmal oben auf der Anhöhe angelangt, damit begann, im Zickzack in der Gegend herumzuhuschen. Und zwar in etwa so planlos wie eine Kaulquappe im Schnapsglas. Nur bedeutend ausdauernder. Die Berner Polizisten stellten ihre Gespräche ein und folgten dem Mann mit ihren Blicken.
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