Obwohl von Rotz vieles an dieser Leiche seltsam vorkam und ihm die genauen Gegebenheiten, die zu diesem Unfall geführt hatten, schleierhaft blieben, eines wusste er sehr genau: Diesen Fall wollte er unter keinen Umständen übernehmen. Und der aufgrund der Streuung nicht präzis bemessbare Fundort der Leiche sollte seine Ausrede sein. Dummerweise war es die Strategie, die auch Zgraggen und Brändli verfolgten, die genau so wenig Lust verspürten, sich mit einer zerdrückten Zug-Leiche herumzuschlagen. So war also eine verfahrene Situation geboren: Man hatte einen Toten vorgefunden, im Grenzgebiet dreier Kantone, wobei die Leiche in Stücke gerissen und in alle Weltgeschichte verteilt war: Das eine Bein und die Arme lagen im Zugergebiet, der Grind lag in Schwyz und das Hinterteil in Luzern. Dazwischen eine ungeheure Moorerei. Die Zuständigkeit war und blieb so unklar wie die Wasseroberfläche des Lauerzersees. Und das Schicksal wollte es, dass der Tag, an dem das Sterben in der Innerschweiz einsetzte, auch der Tag war, an dem sich der Polizeiposten Lorraine-Breitenrain zum alljährlichen Frühlingsbummel aufgemacht hatte, der von Bern nach Luzern über Küssnacht bis auf den Kulm der Rigi führen sollte.
Unter den Polizisten der Wache Lorraine-Breitenrain erstaunte es niemanden, dass der Poschifahrer den defekten Motor seines Gefährtes nicht mehr in Gang brachte. Zu ungeduldig kam er ihnen vor, deutlich zu eingeschränkt war seine Impulskontrolle. Er hantierte mehr zufällig als überlegt am Motor herum und nach jedem misslungenen Versuch, ihn zu reparieren, stüpfte er gegen die ohnehin bereits arg zerbeulte Motorhaube oder hämmerte mit einem Engländer wie ein Gestörter ins Getriebe. Es waren Massnahmen, die im besten Fall sinnfrei und im schlechtesten kontraproduktiv waren. Glücklicherweise sprang der Besitzer des Hotels, in dem die Polizisten nächtigen sollten, höchstpersönlich in die Bresche. Er hiess Keller Philipp und stammte aus einer Schwyzer Glasbläserdynastie, die seine ganze Familie auf Lebzeiten steinreich gemacht und ihm den Spitznamen «Blaser-Phibe» eingebracht hatte. Nachdem man ihn von einem Gasthof aus per Telefon verständigt hatte, fuhr er sofort mit seinem schnittigen Personenwagen nach Meggen, um die gestrandeten Beamten portionenweise zu seinem Hotel zu transportieren, das am Seeufer Küssnachts keine halbe Stunde Autofahrt von Meggen entfernt lag. Keller war eine Frohnatur. Das war vom Moment an klar, als er aus seinem Wagen ausstieg. Ein breites Lachen überdeckte das schmale, von Sommersprossen bedeckte Gesicht. Die Haare erstrahlten in feuriger Röte, er trug einen teuren Anzug und hatte den Hang, zu laut zu lachen und dabei anderen Menschen übertrieben hart auf die Schultern zu klopfen. Die ersten drei, die Meggen in Kellers Wagen verliessen, waren Chummer, Linder und Friedli. Chummer nahm neben Keller Platz, Linder und Friedli setzten sich auf die Rückbank. Selbst wenn sie dort nur zu zweit sassen, lagen die Platzverhältnisse für Friedli mächtig im Argen. Seine linke Schulter und seine Backe wurden gegen die Fensterscheibe gedrückt und die beiden Knie befanden sich schier vertikal übereinander. Es war nicht einmal so, dass es sich der Linder Franz besonders gemütlich gemacht hätte. Es war auch nicht der Wagen, der klein war. Linder besass schlichtweg mehr Kubikzentimeter Körpermasse, als es die Autobauer in ihren kühnsten Prognosen einkalkuliert hatten, und weil man Masse zwar quetschen, aber nicht vernichten konnte, verteilte sich Friedlis Körper im leeren Raum um Linder herum, so gut es die Umstände erlaubten.
Keller war fei echli ein Bleifuss. Er drückte das Gaspedal bis an den Anschlag durch, sodass die Reifen quietschten und das Automobil in flottem Tempo davondüste. Sie liessen Meggen hinter sich, folgten dem Strassenverlauf, dem See entlang, durch ein Dörfchen namens Merlischachen, an einer Kapelle vorbei, von der ihnen Keller erzählte, sie sei zu Ehren einer belgischen Königin errichtet worden, die an dieser Stelle bei einem Unfall mit einem Packard 120 Convertible Coupé ums Leben gekommen sei. Dass sein Wagen in vollem Garacho unterwegs war, hinderte Keller nicht daran, sich auf einmal über Chummer zu lehnen und auf der Beifahrerseite das Fenster herunterzukurbeln.
«Dort steht mein Hotel, der Seehof du Lac. Dort werden Sie das Wochenende verbringen», schrie er gegen den Lärm des Motors an. Sein Zeigfinger deutete an der Kapelle vorbei ans andere Seeufer. Eine viel zu grosse, etwas chlobige Kirche, wie sie typisch war für katholische Orte, ragte aus einem gepflegten Dorfkern in die Höhe. Unten an einer Promenade gab es eine Schiffländti, daneben stand ein antik anmutendes Gebäude mit einem kleinen Türmchen. Das musste das Hotel sein.
Rund zwanzig Minuten nach Abfahrt erreichte der Wagen Küssnacht. Keller schaltete ein paar Gänge zurück, drosselte das Tempo und damit wurde der Lärm erträglicher. Die Strassen Küssnachts waren bevölkert von Menschen unterschiedlichster Gattungen: Kirschen-, Blumen-, Milch-, Bier- und Kirschwasserverkäufer, Schuhputzer, Gatteröffner, Jodler, Kuriere, Gepäck- und Sesselträger, Hirten, Bergführer und Pferdehalter. Die Vielfalt an Menschen und Berufen war spektakulär. Und offenbar übten die Meister ihr Handwerk hier häufig noch auf dem Trottoir vor ihrem Geschäft aus. Ein Zimmermann laugte seine Fensterläden ab, ein Sattler rupfte Rosshaar und ein Metzger reinigte Därme. Die Berner Beamten blickten abwechslungsweise durch das linke und dann wieder durch das rechte Fenster und versuchten so viele Eindrücke wie möglich einzufangen. Dieses Dorf lebte.
Kurz nachdem Keller in eine Strasse abgebogen war, die zum See hinunterführte, bremste er abrupt den Wagen. Der Grund war schnell ausgemacht. Eine Tschuppelete Schaulustiger blockierte einen kleinen Platz, in den die Strasse mündete. Mittendrin befand sich ein Polizist, er war an seiner Schirmmütze leicht zu erkennen. Die Abzeichen verrieten, dass er von niedrigem Rang war. Wachtmeister, aber sicherlich kein Offizier. Um ihn herum standen acht junge Männer, die allem Anschein nach irgendein Wortgefecht mit ihm austrugen. Der Polizist wirkte dumm, aber stur; eine ausgesprochen schwierige Kombination für eine vernünftige Unterhaltung. Linder grunzte verstimmt.
«Diese unflätige Bande hat in der Nacht auf heute überall im Dorf Sägespäne ausgeschüttet», erklärte Keller. Erst jetzt fielen Chummer die Sägespäne auf, die wie ein breites Band quer über die Strasse führten, dort eine scharfe Kurve machten und in einer schmalen Gasse verschwanden. An einem zweistöckigen Haus vis-à-vis einem Schuhgeschäft türmte sich ein grosser Berg aus Spänen auf und versperrte den Zugang ins Innere. Es war aber nicht irgendein Gebäude, das nicht mehr betreten werden konnte. Es war der Polizeiposten.
«Die Polizei vermutet ein politisches Motiv … die Machenschaften eines kommunistischen Geheimbundes … oder etwas dergleichen», setzte der Hotelier seine Erklärungen fort, lachte lauthals und klopfte Chummer auf die Schulter, sodass diesem das Zigarettli aus dem Mund fiel, das er sich gerade hatte anzünden wollen. «Die jungen Männer wollen aber nur einen alten Küssnachter Brauch verfolgt haben, bei dem heimliche Liebespaare dadurch enttarnt werden, dass der Weg des Liebhabers zur Allerliebsten markiert wird.»
Chummer nickte halbherzig, steckte sich das Zigarettli wieder in den Mund und wagte einen neuen Versuch. Die Geschichte interessierte ihn nicht. Er wollte nur dieses Wochenende hinter sich bringen. Einen konkreten Nutzen sah er im Maibummel nicht. Die jungen Männer verabschiedeten sich zunehmend vom vordergründig freundlichen und respektvollen Umgangston. Eine unglückliche Entwicklung. Linder realisierte, dass sich eine Schlägerei anbahnte. Schlägereien mochte er nicht. Die Runzeln auf seiner Stirn wurden tiefer und tiefer, und noch ehe die Beteiligten selbst überhaupt erkannten, dass der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, im Begriff war zu fallen, stiess er die Tür des Autos auf und stürmte energisch auf die jungen Männer los. Als diese den Hünen erblickten, dem sie sogar zu zweit kaum den Ranzen hätten umfassen können, senkten sie die geballten Fäuste. Linder brauchte gar nicht erst etwas zu sagen. Er blieb einfach vor ihnen stehen, liess den grimmigen Blick hin und her schweifen und schnaufte dazu wie ein Walross. Ein Motor erstickte, drei weitere Türen öffneten sich und die übrigen Insassen des Automobils gesellten sich zu Linder an den Pfarrhausplatz. Der Dorfpolizist musterte die Fremden ratlos. Schliesslich blieb sein Blick am «Blaser-Phibe» hängen.
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