Abends, wenn es erleuchtet ist, würde das Gebäude strahlen – fast so, als würde es all das Licht der Sonne tagsüber festhalten, nur damit es nachts am hellsten scheinen würde.
Er behält Brandons Ratschlag die ganze Zeit im Hinterkopf, während er daran arbeitet, und auch wenn er hasst, es zuzugeben, denkt er auch an Lacroix' Feedback nach seinem letzten Entwurf. Er konzentriert sich auf die Funktionalität des Gebäudes, nicht nur auf sein Aussehen, und versucht, alles so umweltfreundlich wie möglich zu halten. Manchmal muss er im Hinblick auf die Kosten oder die Komplexität aber einiges anpassen. Wer sagte denn, dass er nicht lernfähig ist?
Avery starrt die Darstellung an und fragt sich, warum ihm bisher niemand gesagt hat, dass er so verdammt offensichtlich ist. Denn all das, was die Rahmenbedingungen und praktischen Umstände angeht, stimmt vielleicht, aber was er sich ansieht, ist mehr als das. Das ist unnachgiebiger Stein in kompromisslosen Linien, der mit der plötzlichen, unerwarteten Rundung des Glases zusammentrifft, das sich den Regeln nicht ganz unterwirft – eine Zusammenkunft von Formalität und Unnachgiebigkeit mit Aggression und Widerspruch.
Großartig. Er hat das Kamasutra der Zentren für Performancekunst erschaffen. Das ist nicht nur ein Gebäude oder ein Spotlight auf einer Bühne. Es ist eine verdammt offensichtliche Botschaft, die da lautet: Hey, Lacroix, ich bin wie Glas und es wäre toll, wenn Sie mich mit all Ihren kompromisslosen Winkeln bedecken würden.
Verdammte Scheiße.
Bis zu diesem Moment ist Avery nie aufgefallen, wie oft er Glas als Designelement nutzt. Glas, das von innen erhellt wird, sodass sich nichts dahinter verbergen kann. Glas, das aus Feuer geboren ist, aber trotzdem viel zu leicht bricht.
Fuck. Kann er nicht etwas schneller dabei sein, den Scheiß über sich selbst herauszufinden? Jaime, seine einzige Ex-Freundin, mit der er je befreundet geblieben ist, ist Psychologin. Er hat einmal zu ihr gesagt, dass er ein offenes Buch ist, weil er nicht will, dass jemand zu Ende liest und enttäuscht ist. Lieber lege ich alles offen, damit alle es sehen können.
Offenbar geht es seinen Entwürfen genauso. Es ist schwierig, Makel zu finden, wenn alles so… entblößt ist.
Himmel. Wieso hat er das nie bemerkt?
Weil du dir als Architekt deiner selbst noch nie so sehr bewusst warst. Du hast alles auf die einfachsten Formen reduziert und es sieht aus, als wärst du ein durchsichtiges, launisches Miststück, das mit seinem Boss schlafen will.
Das sollte er Jaime erzählen. Sie hätte ihre helle Freude daran.
Avery denkt darüber nach, den Entwurf wegzuwerfen und stattdessen sein (wirklich gutes) Design für ein paar Luxuslofts noch einmal einzureichen, das Lacroix mit der Notiz Würden Sie hier wohnen wollen? abgelehnt hat.
Er denkt auch darüber nach, überhaupt nichts abzugeben, denn das hier ist nicht das Studium und er darf das – Projekte auslassen, die ihn nicht inspirieren.
Avery verbringt eine lange Zeit damit, in dem abgedunkelten Gebäude stumm an seinem Schreibtisch zu sitzen, während er an einem Stift kaut. Es ist ein guter Entwurf. Das weiß er. Vielleicht zeigt er Lacroix, dass er auf sein Feedback gehört hat, auch wenn ein Teil von ihm sich weigert, irgendetwas zu tun, was Lacroix ihm sagt – einfach aus Prinzip. Oder zumindest, ohne dass Lacroix ihn dazu zwingt.
Ist es das wert? Nur um ein Gebäude zu haben, an dem er vorbeifahren, darauf deuten und sagen kann: »Siehst du das? Das hat in meinem Kopf angefangen und jetzt steht es hier. Ich kann es anfassen und ansehen und das Licht verhält sich genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.«
Moment. Was zur Hölle? Abgesehen davon ist es nicht so, als würde Lacroix einen Blick auf die Pläne werfen und sich sofort denken Natürlich wollen Sie mich. Sehen Sie sich diese Konturen und dieses halbkreisförmige Glasgebilde an. Es ist so fürchterlich offensichtlich, Mr. Hextall. In Averys Kopf benutzt Lacroix Wörter wie Glasgebilde, als wäre er nicht auch ein Architekt, und Wörter wie fürchterlich, als wäre er eine Figur aus Downton Abbey. Quadrate und Halbkreise sind keine völlig neuen Konzepte, die er sich selbst ausgedacht hat, und der Entwurf entspricht den Anforderungen und macht auf sehr prägnante Weise Sinn.
Ich habe gleichzeitig einen Scheinwerfer und eine Bühne entworfen. Ich weiß, ich weiß. Ich bin so meta, dass es wehtut. So. Wenn jemand fragt, wird er genau das sagen.
Avery drückt auf Einreichen, bevor er es sich ausreden kann, und überlegt es sich gleich darauf ungefähr viermal anders, bevor er es überhaupt zum Aufzug schafft. Er sagt sich, dass es zu spät ist, um irgendetwas dagegen zu unternehmen. Computerspionage steht nicht auf der Liste seiner vermarktbaren Fähigkeiten.
Abgesehen davon – falls die alte Maxime (oder ist es ein Spruch von Dr. Phil? Avery weiß es nicht mehr), dass vergangenes Verhalten der beste Prädiktor für zukünftiges Verhalten ist, zutrifft, kann er einfach nach Hause gehen. Dort wird er sich einen Drink einschenken, sich schrecklich von Mistee's Muffalicious Vacation III langweilen lassen und sich einen runterholen, während er daran denkt, wie sein Boss ihn auf seinem Schreibtisch fickt und ihm ins Ohr flüstert: »Hör mir zu, Avery.«
Denn unter keinen Umständen wird Lacroix seinen Entwurf auswählen. Und vielleicht wird Avery ihn dann noch mehr hassen, was ihn vielleicht sogar heilen wird – von was auch immer das hier ist. Dann wäre alles wieder in bester Ordnung.
Eine Woche später wird Avery mitten in der Nacht von einem Sturm und Donnergrollen aufgeweckt, das so laut ist und die Fensterscheiben so sehr zittern lässt, dass Avery befürchtet, sie würden zerspringen. Seine Katze stolziert grazil über seine Kommode und wirft dabei etwas Kleingeld und einen Schlüsselbund hinunter, weil Katzen einfach das Schlimmste überhaupt sind.
»Es ist nicht meine Schuld, dass es stürmt«, sagt Avery zu ihr und versucht, sie hochzunehmen. Unglücklicherweise ertönt ein lauter Donnerschlag und sie stößt sich von ihm weg, als hätte sie Federn in all ihren Gliedmaßen. Sie zerkratzt ihm den ganzen verdammten Arm und versteckt sich unter dem Bett.
»Ich könnte dir die Krallen entfernen lassen. Das könnte ich tun. Oder ich könnte mir einen Hund kaufen. Behalt das einfach im Hinterkopf«, grummelt Avery, während er sich die Bettdecke über den Kopf zieht.
Als Avery am nächsten Morgen ins Büro kommt, wartet eine E-Mail von Lacroix' Assistenten Ford O'Keefe in seinem Posteingang.
Hextall,
Mr. Lacroix würde sich heute gerne um zehn mit Ihnen treffen. Seien Sie bitte pünktlich und denken Sie daran, dass Sie sein Büro nicht betreten sollen, bis ich ihn wissen lasse, dass Sie da sind.
Wenn Sie andere Verpflichtungen haben, verlegen Sie diese auf einen anderen Termin.
Etwa eine Stunde lang sitzt Avery an seinem Schreibtisch und starrt Fords E-Mail an. Er hat keine Ahnung, was er davon halten soll oder was sie bedeuten könnte. Nervosität macht sich in seinem Bauch breit und sorgt dafür, dass er am liebsten seinen Kaffee und die Zimt-Pop-Tarts wieder hochwürgen würde.
Brandon schickt eine E-Mail an seine Privatadresse, in der er fragt, ob er einen Kater hat. Avery schüttelt den Kopf, als er sie liest, denn gerade fällt ihm das Tippen zu schwer. Er will Brandon von Fords E-Mail erzählen und herausfinden, ob er auch so eine erhalten hat, bevor man ihm das Byrne-Projekt überlassen hat.
Er tut es nicht, weil er sich nicht sicher ist, ob er die Antwort hören will. Und auf keinen Fall wird er Brandon erzählen, dass er müde ist, weil seine Katze ihn aufgeweckt hat. Das wäre ja so was von uncool.
Brandon antwortet mit einer E-Mail auf sein Kopfschütteln.
sicher? du siehst echt scheiße aus, mann.
Brandon verhält sich viel mehr wie ein Typ aus einer Studentenverbindung, als Avery es für möglich gehalten hätte, also antwortet er auf die gleiche Weise.
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