1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Silvia trank noch einen letzten Schluck Wein. Die Bilder des Abends liefen vor ihren Augen Revue, ob sie wollte oder nicht, und begleiteten sie ins Bett, seltsam aufwühlende, intensive, erregende Bilder, die sie trotz ihrer Müdigkeit nicht einschlafen ließen und ihre Hand zwischen die Schenkel lockten, hin zur kribbelnden Scham, die so tat, als hätte sie schon seit ewigen Zeiten keinen Mann mehr gehabt. Zärtliche Finger gaben ihr das Gewünschte …
Silvia schlief gut in dieser Nacht, tief und unbeschwert, ohne Sorgen.
Begegnung im Städtchen
Sie erwachte in der Mitte eines eisig klaren Tages. Blassgelb, klein und kraftlos stand die Sonne am makellos blauen Himmel, silbern glitzerte der Park, gepudert vom Reif, der nicht taute. Frühstück gab es keines mehr, stellte sie fest beim Blick auf die Uhr, fast schon war es Zeit fürs Mittagessen. Doch hatte sie keinen Appetit. Mehr als essen reizte sie ein kleiner Ausflug in die Stadt, einkaufen, das Konto einrichten, sich umschauen, vielleicht irgendwo einen Kaffee trinken. Sie machte sich frisch und zog sich an. Die zarten Strümpfe, die es im Schrank nur gab, wärmten kaum und mussten von Strapsen gehalten werden, waren aber besser als nichts, das Gleiche galt für das dünne schwarze Negligé, das sie überzog. Für drüber wählte sie ein schwarzes langes Kleid, das einzige hochgeschlossene im Sortiment, damit war sie für die Stadt gerüstet wie eine Touristin in Sommerkleidung für die eisigen Gipfel eines Gebirges.
Im Speicher des Telefons fand sie das Stichwort „Taxi“, stellte die Verbindung her und hörte das Freizeichen. Ebenso einfach, wie sie eine Verbindung nach draußen schaffen konnte, war sie per Telefon auch zu erreichen: die Nummer des Hauses und die Vierzehn dazu, dann war man mit ihr verbunden. Allerdings gab es niemanden, der die Nummer kannte, niemanden, der sie anrufen würde, sie war unerreichbar geworden für alle ihre Bekannte, verschollen, spurlos aus ihrer Welt verschwunden, es störte sie nicht, es gab kein Bedauern, obgleich … Mit Claudia hätte sie gerne mal wieder geredet, was aber ihr sagen? Sie würde nur auf Unverständnis stoßen, müsste sich Vorhaltungen, Mahnungen, Belehrungen anhören, niemals würde Claudia sie begreifen.
Das Taxi komme in zehn Minuten, wurde ihr von einer weiblichen Stimme mitgeteilt, der Fahrer werde vor dem Tor warten wie üblich. – Wie üblich? Es fuhr also öfter ein Taxi für eines der Mädchen vor, eine beruhigende Auskunft, gab das doch Hoffnung, nicht wie ein exotisches Wesen begafft zu werden, denn dass jeder in der kleinen Stadt über das Geschehen hinter den Mauern von Schloss Sinnenhof Bescheid wusste, musste sie doch annehmen. Sie schaute in den weißen Umschlag von Corinna und fand darin tausend Euro, eine Menge Geld und doch auch nicht, wenn sie daran dachte, dass sie in einer einzigen Nacht mehr eingenommen hatte. Die Männer waren verrückt, keine Frage.
Sie steckte die Hälfte des Geldes in ihr Portemonnaie, zog den warmen Mantel an und ging schon mal hinunter. Der Flur im Erdgeschoss führte am Foyer vorbei zum Personaleingang und sie gelangte auf den Parkplatz hinter dem Haus, auf dem die Mädchen und die Bediensteten ihre Autos abstellten. Das schmiedeeiserne Tor schwang lautlos vor ihr auf, wie von Geisterhand bewegt, und sie kam in den gepflasterten Hof, in dem kein einziges Auto stand. Das ganze Schloss wirkte wie ausgestorben und die Kälte sprang sie an wie ein wildes Tier. Sie schlug den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen.
Auf irgendwelche mysteriöse Weise gesteuert, öffnete sich vor ihr auch die kleine Pforte neben dem geschlossenen großen Haupttor, das ab vierzehn Uhr permanent offen stehen würde. Bibbernd lief sie in der Einfahrtsbucht hin und her, nahm sich vor, unbedingt auch warme Socken zu kaufen, und hoffte, dass das Taxi noch auftauchen würde, bevor sie erfroren war. – Da kam es endlich und hielt direkt vor ihr an. Rasch sank sie auf den Beifahrersitz, froh um die mächtig blasende Heizung.
Wenn sie gehofft hatte, dass die Mädchen des Hauses keine besondere Aufmerksamkeit erfahren mussten, sah sie sich getäuscht. Der Fahrer, ein junger Bursche mit langem Haar, starrte sie an, als erwarte er auf der Stelle ein Wunder von ihr. Er war wohl neu im Geschäft (wie sie ja auch) und hatte sich noch nicht so ganz unter Kontrolle (wie sie ja auch nicht, wenn sie an ihr gestriges Erlebnis mit dem Gast namens Wolfgang dachte).
Zur Fußgängerzone, sagte sie, als er sie ausgezogen hatte mit seinem aufdringlichen Blick, irgendwohin, wo man einkaufen könne. Er wendete den Wagen und preschte los, wobei er jetzt wenigstens den Blick von ihr losriss, um nach vorne zu schauen, womit es also Chancen gab, die Fahrt heil zu überstehen. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen roten Kleinwagen aus einem Waldweg auf die nur wenig befahrene Bundesstraße einbiegen.
Das Städtchen erwies sich als größer denn gedacht, es wurde umgürtet von hässlichen Industriegebieten, die sich weit in die Ebene erstreckten, und in seinem Kern, der sich zwischen sanfte Hügel schmiegte, wechselten sich funktionale Glas- und Betonbauten mit schmucken Fachwerkhäusern ab. Bei einer frühmittelalterlichen großen Kirche, die von einem neu gebauten Kaufhaus erdrückt wurde, begann die Fußgängerzone und ihr gegenüber kam das Taxi zum Stehen.
„Ganz in der Nähe befindet sich der Bahnhof“, sagte der Fahrer und wies in eine abzweigende Straße. „Dort finden Sie zur Rückfahrt mich oder einen Kollegen.“ Er bedankte sich für das Trinkgeld, und gebadet in seinen zudringlichen Blick, gesellte sie sich zu den wenigen Fußgängern, die vor der roten Ampel warteten. Hinter ihr hupte aufgebracht ein Bus, sie schaute sich um und sah, wie der Fahrer wild gestikulierend einen roten Kleinwagen vertrieb, der die Haltestelle blockierte. Sie befand sich wieder in der „richtigen“ Welt, die so gar nichts gemein hatte mit der Abgeschiedenheit „ihres“ Schlosses, erlebte verwundert den alltäglichen Kampf in der Arena der Normalität, er kam ihr vor wie ein absurdes Theaterstück. Aber nur keine Anmaßung, auch sie spielte darin eine Rolle, ob sie wollte oder nicht, wenn augenblicklich auch nur die einer Statistin, die frierend durch die Straßen lief.
Die Fußgängerzone glich denen anderer Städte, Betonpflaster mit „Natursteincharakter“ beschwor Nostalgie, im Kontrast dazu standen Filialen von Hamburgerketten, überregionalen Optikern und eines Fischvermarkters für die moderne Zeit. In den Kinos liefen die bekannten aktuellen Filme, viel Interessantes gab es also nicht zu sehen. Auch die Kaufhäuser mit ihren glatten Fassaden waren denen anderer Städte zum Verwechseln ähnlich, Klone, wohin man auch schaute, die sogenannte „Philosophie“ (wie achtlos doch mit den Worten umgegangen wurde) des Wiedererkennungseffektes erstickte jede Originalität.
Immerhin fand sie in einem der glitzernden Einkaufstempel schon bald das Gesuchte: baumwollene Slips, dichte Strumpfhosen, warme Unterhemden und wollene Socken. Sie ging nach dem Bezahlen noch einmal in eine Umkleidekabine und zog sich um, packte die Strümpfe, den Strapsgürtel und das Negligé in die Tasche, sie erfüllten im Foyer ihren Zweck, nicht in der Kälte des Tages.
Wie lange sie schon nicht mehr „richtig angezogen“ gewesen war, sie fühlte sich verpackt wie eine Mumie, gewärmt, geschützt, geradezu anständig, ganz ungewohnt, einer jeder biederen Hausfrau ebenbürtig, sich selbst entfremdet? Aber woher denn, es war praktisch so und angenehm, die Kälte verlor an Biss beim Rückweg durch die fremde Stadt, die eintönig und abweisend unter dem fahlblauen Himmel lag. Ganz in der Nähe der Kirche gab es eine Bankfiliale in einem protzigen neuen Gebäude, sie betrat es wenig erfreut, füllte die Formulare für die Kontoeröffnung aus und wurde von dem jungen Angestellten scheel beäugt, als er auf ihrem Ausweis die weit entfernte Adresse las. Noch skeptischer, aber auch interessiert wurde sein Blick, als sie ihm sagte, dass eventuell anfallende Post an Schloss Sinnenhof geschickt werden solle. Damit wusste also auch er Bescheid. Er überreichte ihr die Unterlagen mit einem schüchternen Lächeln und aufatmend verließ sie die Bank, froh, diese lästige Pflicht hinter sich zu haben.
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