1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Ganz in der Nähe aber gab es etwas Erfreuliches zu sehen: ein kleines Bistro, das mit Spaghetti Alfredo und Kaffee lockte. Sie nahm Platz an einem der runden Tische, verstaute die Plastiktüte mit den Einkäufen auf dem zierlichen Stuhl gegenüber und gab bei der wenig beschäftigten jungen Bedienung die Bestellung auf. Frisch wirkte das Mädchen mit dem kurzen blonden Haar, dem jugendlich rosigen Gesicht, dem knabenhaften Körper, den sie unter einer weiten Jeans und einem weißen T-Shirt verbarg, die reine Unschuld, die noch einen weiten Weg vor sich hatte bis zur frustrierten Ehefrau eines missmutigen Gatten und entnervten Mutter quengelnder Kinder. Sie stakste zur Theke mit hölzernem Schritt und Silvia wandte den Blick zur Tür, da ein neuer Gast das Bistro betrat – kannte sie den nicht, war er das wirklich?
Er war groß, von fast hünenhafter Statur, sein Gesicht wurde von einem dunklen Schatten überzogen, voll waren die Lippen, grünlich grau die Augen. – Ja, das war er, „ihr“ Aufseher vom vergangenen Sommer, ganz eindeutig. Er trug einen langen dicken Lodenmantel, hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen vergraben. Ein dicker Schal, zweimal um den Hals gewickelt, drohte ihn zu ersticken, seine hohen Schuhe, mit langhaarigem Pelz besetzt, schienen direkt von einem Eskimo zu stammen, eine Fellmütze bedeckte den Kopf, aus dickem Fell auch bestanden die halbrunden Schoner über den Ohren. Offenbar war er fürs Überwintern am Nordpol ausgerüstet.
Mit einem erfreuten Lächeln stapfte er zu ihr her und leise, fast schüchtern erklang seine rostige Stimme: „Hallo, Silvia, schön, dich zu sehen. Darf ich mich setzen?“
Er durfte, ja, auch sie freute sich, ein bisschen jedenfalls. „Das ist aber ein Zufall, dass wir uns hier begegnen.“ Sie nahm die Tüte vom Stuhl, stellte sie auf den Boden, um Platz für ihn zu schaffen.
„Ja, kaum zu glauben“, murmelte er. „Wie geht’s dir denn?“ Sonderlich überrascht schien er nicht zu sein, sie hier in dieser Stadt anzutreffen, in der er sie doch eigentlich nicht vermuten konnte. Er fragte nicht, was sie hier tue, ob sie vielleicht nach hierher umgezogen sei oder sich zu einem Kurzurlaub hier befände, nahm ihre Anwesenheit einfach wie selbstverständlich hin.
„Danke, ganz gut.“ Warum sie es plötzlich peinlich fand, ihm von ihrer Rückkehr nach Schloss Sinnenhof zu erzählen, war ihr ein Rätsel, da sie vor diesem Mann doch wirklich keinen guten Ruf zu verlieren hatte. Ihre Stimme aber erstarb.
Er bestellte bei der Bedienung einen Kaffee. Wenn diese wüsste, wen sie da vor sich hatte, wäre ihr Lächeln vielleicht ein bisschen weniger freundlich ausgefallen, vielleicht aber auch nicht. Silvia überlegte derweil, wie sie ihn ansprechen solle. Ihr Behüter war er nicht mehr, das unterwürfige Ihr stand also nicht zur Debatte. Sie vielleicht? Aber hatte er sie nicht geduzt und konnte sie sich nicht Gleiches erlauben? Es fiel ihr nicht leicht, sie musste sich überwinden, doch sprach sie das Du dann aus, das sie sich ihm gegenüber niemals hätte erlauben dürfen im vergangenen Sommer: „Bist du noch auf dem Schloss?“
„Ja“, antwortete er atemberaubend lakonisch.
Ein beredtes Schweigen umschloss sie beide, ließ sie zu Verbündeten einer gemeinsamen Erinnerung werden, ob sie wollten oder nicht. Bilder tauchten auf. Silvia sah ihn in seiner Aufsehermontur, sah ihn mit dem Buch in der Hand und mit der Peitsche, sah sich im langen Gewand seinen Blicken ausgeliefert, sah sich den Freudenslip anlegen und vor ihm knien, um ihn um Nachsicht zu bitten … Vermutlich ähnelten seine Bilder den ihren.
„Ich habe oft an dich gedacht“, sagte er.
Konzentriert rührte sie in ihrem Kaffee. „Ich kann es mir vorstellen.“
„Nicht so, wie du vielleicht glaubst. Anders. Als ich von der Herrin gestern erfuhr, dass du wiedergekommen bist …“ Er unterbrach sich verlegen und senkte den Blick, wie sie es vor ihm immer getan hatte.
Er wusste also Bescheid, hatte sich deshalb über die Begegnung nicht gewundert. Sein Kaffee kam und ihr Essen auch. Nachdenklich wickelte sie einige Spaghetti um die Gabel. War diese Begegnung hier wirklich ein Zufall? So recht konnte sie daran nicht mehr glauben.
Sie nahm einen Bissen und schaute ihn an. „Ist wirklich komisch, dass wir uns in dieser gar nicht so kleinen Stadt kurz nach meiner Ankunft über den Weg laufen. – Fährst du zufälligerweise einen roten Kleinwagen?“
Er seufzte tief, kratzte sich sinnierend am nicht mehr bedeckten Kopf, trank einen Schluck Kaffee, seufzte ein zweites Mal, nickte ertappt und gestand, dass er im Auto in der Nähe des Schlosses gewartet hatte in der Hoffnung, dass sie vielleicht in die Stadt führe, was ja glücklicherweise auch geschehen war. Er könne es nicht ändern, jedenfalls habe er den innigen Wunsch verspürt, sie wieder einmal zu sehen, wieder einmal ihre Stimme zu hören, ihr nahe zu sein …
Oh. Klang das nicht wie eine schüchtern verbrämte Liebeserklärung? Na ja, ein bisschen war sie geschmeichelt, fand diesen Mann auch sympathisch, hatte ihn damals schon gemocht, vielleicht in manchem Augenblick sogar mehr als das, aber … Zu neu war das neue Leben, zu ungefestigt, zu aufregend, als dass so etwas wie Liebe derzeit darin hätte Platz finden können. (Aber wieso „derzeit“, war dem nicht schon lange so?)
Sie wich aus: „Du hast im Auto gewartet bei dieser Kälte? Du musst ja halb erfroren sein.“ Statt „halb erfroren“ hätte sie auch „verrückt“ sagen können, es meinte das Gleiche.
„Na ja, sehr angenehm war es nicht. Aber es hat sich gelohnt.“
Hatte es das? Was wollte er von ihr, was erwartete er, welchen Fantasien hing er nach? „Ich bin keine Sklavin mehr.“ Den Zusatz „jedenfalls nicht deine“, ersparte sie sich lieber.
„Ich weiß. Ich habe dich auch nie als Sklavin gesehen.“ Er bemerkte die Zweifel in ihrem Blick und korrigierte sich. „Höchstens vielleicht ganz am Anfang.“ Die gespitzten Ohren der Bedienung wiesen darauf hin, dass dieses Bistro nicht der rechte Ort für eine solche Unterhaltung war. Helmut (Silvia hatte seinen Namen nicht vergessen) schaute auf seine Armbanduhr, die er unter diversen Schichten von Pulloverärmeln hervorwühlte. „Ich habe Abendschicht und muss bald gehen. Können wir uns mal treffen, nächste Woche vielleicht? Da habe ich frei.“
Warum nicht? Nächste Woche würde sie ihre Tage haben und für das Foyer nicht zur Verfügung stehen. Bevor sie alleine in ihrem Zimmer saß … Sie sagte, wie sie zu erreichen war, die Nummer des Schlosses gewählt (die er natürlich kannte) und die Vierzehn dazu (das ließ sich einfach merken). So war er denn nun der Erste, dessen Anruf sie erwarten konnte. Er wollte ihre Rechnung bezahlen, doch ließ sie das nicht zu, sicherlich verdiente sie mehr Geld als er, was sie ihm natürlich nicht sagte. Dass sie seinen Kaffee gleich mitbezahlte, schien seine Ehre nicht zu verletzen, anscheinend war er trotz seines anachronistischen Jobs ein halbwegs modern denkender Mann. Beim Gedanken an die aufdringlichen Blicke der Taxifahrer schlug sie vor, dass er sich erkenntlich zeigen und sie zum Schloss mitnehmen könne.
Er war erfreut. „Ja, gerne.“
Sein rotes kleines Auto stand nicht weit entfernt vom Bistro im Parkverbot, am Scheibenwischer hing ein Strafzettel, den er grummelnd in die Jackentasche stopfte. Ächzend quetschte er sich sodann hinters Steuer, passte kaum hinein. Schon lange war Silvia nicht mehr in einer solchen Klapperkiste gesessen, hatte gleich nach der Führerscheinprüfung einen ähnlichen Schrotthaufen gefahren, dann aber, durch Wolfgang bedingt, nur noch komfortable Limousinen. Mitleiderregend heulte das bisschen Motor und wie eine alte Dame hielt sich Silvia am Griff über dem Fenster fest, fühlte sich alles andere als sicher.
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