Charissa hasste es, korrigiert zu werden. Gewöhnlich gelang es ihr, sich selbst zu korrigieren, bevor ein anderer die Gelegenheit dazu hatte. Und jetzt hatte Dr. Allen, dessen Meinung für sie persönlich und für ihren akademischen Erfolg so wichtig war, statt des sonst üblichen Lobes einen geheimnisvollen Tadel geäußert. Sie hatte wirklich keine Ahnung, was er meinte. Aber sie würde ihn nicht um eine Erklärung bitten. Charissa zeigte nur selten, dass sie etwas nicht verstanden hatte, indem sie nachfragte. Sie würde an diesem Samstagskurs teilnehmen und damit Dr. Allens Empfehlung folgen.
Nachdem die Speisekammer aufgeräumt war, pflückte sie einen Fussel vom Teppich und überlegte, was vor ihrer Stillen Zeit, die sie streng jeden Morgen einhielt, noch zu tun wäre.
Mara
Mara Garrison nahm den Pfefferminztee von Dawn entgegen und ließ ihren umfangreichen Körper in den ihr vertrauten Sessel sinken. Über welchen wunden Punkt sollte sie heute reden? Jeden Monat saß sie in Dawns Praxis und sprach über dieselben Themen: Vertrauen. Scham. Zurückweisung. Selbstwert.
Sie bewegte sich im Kreis.
„Ich habe das Gefühl festzustecken“, sagte Mara und schüttelte den Kopf. „Ich sitze vollkommen fest. Ich begreife zwar, wie ich hier gelandet bin, aber ich habe keine Ahnung, wie ich da wieder rauskomme. Fünfzig Jahre alt bin ich jetzt, und ich muss mich ernsthaft fragen, ob ich je weiterkommen werde.“
„Sie haben doch schon große Fortschritte gemacht, Mara. Wirklich.“
Dawn machte ihr immer Mut. Mara wünschte, sie hätte eine Freundin wie Dawn – einen Menschen, mit dem sie eine Tasse Tee trinken könnte, ohne ihn am Ende des Besuchs bezahlen zu müssen.
„Sie haben die Mühe auf sich genommen, sich mit den Ursachen Ihrer Probleme auseinanderzusetzen“, sagte Dawn gerade. „Aber die besten Analysen und Erkenntnisse führen noch lange nicht zur Heilung. Man kann nicht alles mit dem Verstand erfassen oder lösen. Ich denke, Sie müssten einen Weg finden, um Gott auf eine ganz neue Weise zu begegnen und sich von ihm helfen zu lassen.“
Mara strich mit ihrem Zeigefinger über den Rand ihres Bechers.
„Eigentlich bin ich ganz froh, dass Sie so frustriert sind“, meinte Dawn.
Mara hielt inne. „Wie bitte?“
So etwas sagte Dawn normalerweise nicht. Normalerweise versuchte sie sie davon zu überzeugen, dass ihre vermeintlichen Kreise eigentlich aufsteigende Spiralen waren, die einen Berg erklommen, nicht unendliche Kreise, die ins Nichts führten. Normalerweise versuchte Dawn ihr begreiflich zu machen, dass die Tatsache, dass sie immer wieder auf dasselbe Problem stieß, nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie Rückschritte machte. Ihre Perspektive hatte sich nur verändert. Sie stand ein Stück weiter bergauf und blickte darauf hinunter.
„Sie haben den Zustand einer heiligen Unzufriedenheit erreicht“, erklärte Dawn. „Die Frustration, die Sie empfinden, kann ein Geschenk sein und ein Anstoß für Sie, mehr in die Tiefe zu gehen. Ich spüre eine gewisse Ruhelosigkeit bei Ihnen, und Ruhelosigkeit bedeutet Bewegung. Sie mögen das Gefühl haben festzustecken, aber Ihr Geist ist in Bewegung.“
„Aber ich bin innerlich total aufgewühlt. Ich dachte, der Glaube sollte Frieden und Freude bringen, aber ich empfinde das nicht. Bestimmt mache ich irgendwas falsch.“
Dawn beugte sich vor. „Unruhe ist auch ein Geschenk Gottes an uns, Mara, so seltsam das vielleicht klingen mag. Stellen Sie sich vor, Sie würden in einer Tür stehen, auf der Türschwelle. Ihre Unzufriedenheit kann Sie dazu bewegen, aus dem Alten herauszutreten, in etwas Neues hinein. Wenn Sie selbst am Ende sind und sagen: ‚Ich habe es satt, so zu leben. Ich will mehr!‘, dann ist Gott da und hilft Ihnen, loszulassen und weiterzugehen. Wie klingt das?“
Mara dachte über diese Bemerkung nach. „Ich wünsche mir einfach nur Frieden“, sagte sie schließlich, während sie an dem kaute, was von ihrem Fingernagel noch übrig war.
„Was ist Frieden?“, fragte Dawn.
Ich weiß, ich weiß. Dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt. Dawn würde sie gleich daran erinnern, dass Frieden nicht das Nichtvorhandensein von Konflikten bedeutete, sondern das Wissen um die Gegenwart Gottes inmitten des Sturms, dass Frieden nicht abhängig sei von ihren Lebensumständen, dass es beim wahren Frieden um Ganzheitlichkeit ginge und um das Einssein mit Gott. Frieden sei ein Geschenk, die Frucht einer innigen Beziehung zu Jesus. Und so weiter.
Obwohl Mara durchaus begriff, was Frieden war, hatte sie ihn doch nie selbst erlebt. „Ich bin müde“, flüsterte sie. „Ich bin des ständigen Kämpfens müde. Ich sehne mich nach einer Atempause.“
Dawn schwieg lange Zeit, und Mara fragte sich, was sie wohl dachte. Vielleicht hatte auch Dawn sie schließlich aufgegeben. Vielleicht war sie ein hoffnungsloser Fall. Sie starrte auf ihre Schuhe und wappnete sich innerlich für das Urteil.
Dawn erhob sich, ging zu ihrem Schreibtisch und suchte einen pflaumenblauen Flyer heraus. „Ich habe Ihnen ja schon vom New Hope-Zentrum erzählt“, sagte sie und reichte Mara den Flyer. „Jetzt wird dort ein Kurs angeboten, den ich Ihnen sehr empfehlen kann, eine so genannte ‚geistliche Reise‘. In diesem Kurs geht es darum, ganz unterschiedliche Übungen kennenzulernen, die Ihnen helfen, Gott zu begegnen. In einer solchen Gruppe würden Sie auch andere Menschen treffen, die auf demselben geistlichen Weg unterwegs sind. Ich denke, das wäre eine gute Sache für Sie.“
Mara überflog die Beschreibung und suchte nach einem Grund, sich gegen den Kurs zu entscheiden.
„Die geistliche Reise ist eine Pilgerreise für Menschen, die Gott näherkommen wollen. Diese Reise ist für alle gedacht, die unzufrieden sind mit einem Leben an der Oberfläche und die das Herz Gottes besser kennenlernen wollen. Wir möchten Sie mit vielfach erprobten geistlichen Übungen bekannt machen, die dem Zweck dienen, einen heiligen Raum zu schaffen für Gott.“
Mara brach ab. Da. Sie hatte es gefunden. „Das klingt … anstrengend“, wandte sie ein. „Ich fühle mich jetzt schon schuldig, obwohl ich noch nicht mal hingegangen bin.“
„Ich weiß“, erwiderte Dawn. „Aber bei geistlichen Übungen geht es nicht um anstrengende Tätigkeiten oder Regeln oder Gebote, die befolgt werden müssen. Sie sind das Handwerkszeug, das uns hilft, einen Raum in unserem Leben zu schaffen, um Gott zu begegnen. Aus uns selbst heraus können wir uns nicht verändern. Das ist Gottes Werk, seine Gnade. Und die geistlichen Übungen helfen uns, uns für das Wirken Gottes zu öffnen.“
Mara zeigte ihre Skepsis durch ein Stirnrunzeln.
„Sehen Sie es doch einmal so, Mara: Wir haben nicht die Macht, die Sonne aufgehen zu lassen, aber wir können uns entscheiden, aufzuwachen, wenn dies geschieht. Geistliche Übungen helfen uns dabei, innerlich wach zu werden für Gott.“
Mara beschäftigte sich weiter mit dem Flyer, suchte nach anderen Gründen, Nein zu sagen. Im Laufe der Jahre hatte sie viele geistliche Bücher gelesen und Bibelstudienhefte durchgearbeitet. So etwas brauchte sie nicht mehr, aber ob sie bereit war, sich mit anderen Menschen über ihr geistliches Leben auszutauschen, das wagte sie zu bezweifeln. „Ich weiß nicht so recht. Es stört mich, dass es eine Gruppe ist“, gestand sie.
„Warum?“
„Wenn ich solche Dinge allein mache, kann mich wenigstens niemand ablehnen.“ So. Sie hatte es ausgesprochen.
„Sehen Sie doch mal, wie weit Sie bereits gekommen sind“, erwiderte Dawn sanft. „Sie haben mir gegenüber vieles enthüllt, über das Sie vorher nie reden konnten, und ich habe Sie nie abgelehnt.“
Mara lächelte schwach. „Ich bezahle Sie ja auch dafür, dass Sie mich nicht ablehnen.“ Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.
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