„Gott segne Sie, Heather.“ Hannahs Herz hatte so wenig Verbindung zu ihren Lippen, dass sie ihre eigene Stimme kaum erkannte. „Ich hoffe, es wird eine gute Zeit für Sie.“ Ehrlich? Wollte sie wirklich, dass diese junge Anfängerin als ihre Vertretung Erfolg hatte? Oder hoffte sie insgeheim, sie würde elend scheitern, damit Steve sie förmlich anflehte, sofort zurückzukommen?
Sie wusste nicht, wie sie diese Frage beantworten sollte.
Nach einem weiteren flüchtigen Blick zurück folgte Hannah ihrer Freundin Nancy Johnson nach draußen zum Wagen. Hannah hatte ihren alten Honda mit Büchern aus ihrem Büro beladen – so viele, wie hineinpassten. Wenn sie schon zu dieser Pause gezwungen wurde, dann wollte sie die Zeit wenigstens gut nutzen.
Kleidung war nebensächlich. Hannah hatte häufig Scherze darüber gemacht, dass sie sich dank ihrer eintönigen Garderobe selbst im Dunkeln anziehen könnte. Und tatsächlich war sie häufig gezwungen, mitten in der Nacht in ihre Sachen zu steigen, wenn sie zu einem Notfall ins Krankenhaus gerufen wurde. Ihre Garderobe war eindeutig pflegeleicht und reisefreundlich. Die wesentlichen Dinge hatten in einen einzigen Koffer und eine Reisetasche gepasst: ihre Pantoffeln aus Schaffell und die Flanellschlafanzüge, einige Jeans und Sweatshirts, ein paar Pullis und Jogginghosen, ein Wintermantel und zwei Fleecepullover, bequeme Schuhe und Stiefel. Die leichteren Kleidungsstücke würde sie im Frühling holen. So hatte sie auch einen guten Grund, nach Hause zu kommen.
„Das ist sicher sehr schwer für dich“, bemerkte Nancy leise.
Du hast ja keine Ahnung, erwiderte sie still für sich. Sie konnte immer noch nicht fassen, was hier geschah.
Die letzte Kiste verstaute sie hinter dem Fahrersitz, und sie hoffte sehr, dass Nancy ihren Inhalt nicht gesehen hatte, als der Deckel aufsprang. In der Kiste steckten alte Tagebücher und andere persönliche Erinnerungsstücke, die Hannah nicht zurücklassen wollte. Schließlich wusste sie ja nicht, wie neugierig Heather war oder wer sonst noch während ihrer Abwesenheit durch ihr Haus wandern würde.
„Doug und ich beten, dass du zur Ruhe kommen und Gott auf ganz neue Weise begegnen kannst“, sagte Nancy. Sie holte einen Schlüssel aus ihrer Tasche. Nancy und Doug hatten Hannah großzügigerweise für die neun Monate ihr Ferienhaus am Lake Michigan zur Verfügung gestellt. Hannah war bisher noch nicht dort gewesen, doch sie hatte Fotos gesehen. Es sah traumhaft schön aus.
„Dieser Schlüssel ist für die Haustür“, fuhr Nancy fort. „Sie klemmt ein wenig, du musst vermutlich ein bisschen rumprobieren. Und hier ist die Wegbeschreibung. Mal sehen, gibt es sonst noch was? Ach ja – kauf immer genug Wasser in Flaschen ein. Das Wasser aus dem Brunnen schmeckt nicht. Ich habe einen Ordner mit Hinweisen auf den Küchentisch gelegt, und wenn du sonst noch Fragen hast, ruf uns einfach an.“
„Danke, Nancy. Danke für eure unglaubliche Großzügigkeit.“ Hannah seufzte und strich sich ihre widerspenstigen Haare erneut hinter die Ohren. „Irgendwas muss mit mir nicht stimmen. Wer könnte denn etwas gegen neun Monate bezahlten Urlaub einzuwenden haben? Ich bin vermutlich verrückt.“
Nancy legte den Arm um Hannahs Schultern. „Du bist nicht verrückt, nur getrieben. Freude an der Arbeit zu haben ist eine gute Sache. Das ist eines der Dinge, die wir an dir so lieben! Aber Steve hat recht: Du trägst die Last der ganzen Welt auf deinen Schultern. Du musst unbedingt mal zu dir kommen.“ Nancy drückte ihr einen Kuss auf die gerunzelte Stirn. „Außerdem ist es eine besondere Gnade, wenn Gott uns vom Gebenden zum Empfangenden macht. Das zumindest hast du mir nach meiner Operation gesagt.“
Hannah lachte reumütig. „Ich hasse es, wenn meine klugen Sprüche gegen mich verwandt werden!“
Als Hannah im Haus der Johnsons am Lake Michigan eintraf, ging gerade die Sonne über dem See unter. Ein wundervoller Anblick. Sie machte es sich in einem verwitterten grauen Gartenstuhl auf der Veranda gemütlich, ließ ihren Blick über den schimmernden See gleiten und atmete tief durch.
Die schlichte Schönheit des schwindenden Tageslichts rührte sie an. Etwas, das sie erst noch begreifen oder in Worte fassen musste, versank auch am Horizont ihres Lebens, und sie hatte keine Vorstellung davon, was an seiner Stelle wieder aufgehen würde. Hilf mir, Herr, betete sie, während sie zusah, wie sich die feurigen Bänder am Himmel entrollten.
Die letzten Farbkleckse verblassten bereits, als Hannah über die Schwelle ihres vorübergehenden Heims trat. Der etwas modrige Geruch des selten bewohnten Hauses ließ eine Erinnerung in ihr lebendig werden. Sie war wieder acht Jahre alt und hüpfte durch das Ferienhaus an der kalifornischen Küste, das ihre Eltern für eine Woche gemietet hatten.
„Papa, sieh nur!“, quietschte sie, während sie ihr Reich überblickte. „Stockbetten! Ich wollte schon immer mal in einem Stockbett schlafen!“
Jetzt schlenderte sie langsam durch die Räume und überlegte, wo sie sich niederlassen sollte. Nancys ausgeprägter, eleganter Geschmack war überall zu erkennen. Dieses Haus gehörte nicht zu den Ferienhäusern, die mit Möbeln aus Second-Hand-Läden und ausrangierten Sachen vollgestopft waren. Dies war ein Haus, in dem Hannah sich nicht traute, die Füße auf den Tisch zu legen. Auf der anderen Seite hatte Nancy ihr genau das nahegelegt.
Seufzend entfernte Hannah die Folie von einem großen Geschenkkorb, prall gefüllt mit Keksen, Schokolade, selbst gemachter Erdbeermarmelade und einem Dutzend unterschiedlicher Teesorten.
Tee. Genau das brauchte sie jetzt. Eine Tasse Tee würde sie beruhigen und ihr helfen, hier anzukommen. Und dann könnte sie anfangen, ihre Bücher in die Regale einzuräumen, die Nancy für sie frei gemacht hatte.
Sie wählte Chai mit Vanillegeschmack, füllte den Wasserkocher und las die Notiz auf der Küchentheke: „Das ist jetzt dein Zuhause, Hannah. Ruh dich aus, spiele und freu dich!“
Ausruhen, spielen, freuen.
Dies waren Worte, die Hannah niemals verwendete. Zumindest nicht in Bezug auf sich. Ihre Freude war ihre Arbeit. Ihre Freude war es, nützlich und produktiv zu sein. Noch immer sah sie die Praktikantin vor sich stehen, fröhlich mit den Schlüsseln zu ihrem Leben klimpernd.
Wie hatte Steve ihr das antun können?
Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, blätterte sie gedankenverloren durch den Stapel mit Reise- und Veranstaltungsbroschüren für die Region. Ein pflaumenblauer Flyer erregte ihre Aufmerksamkeit. Vom New Hope-Einkehrzentrum in Kingsbury hatte sie doch schon mal gehört … dann fiel ihr ein, dass Nancy ihr davon erzählt hatte. Sie hatte im Sommer dort einen Kurs besucht. Auf dem Flyer stand: Eine Einladung zu einer geistlichen Reise. „Jesus sagt: ‚Bist du müde? Erschöpft? Unsicher in Bezug auf deinen Glauben? Komm zu mir. Mach dich mit mir auf den Weg, und du wirst dein Leben zurückgewinnen. Ich will dir zeigen, wie du zur Ruhe kommen kannst. Komm mit mir und arbeite mit mir – beobachte, wie ich das tue. Lerne den ungezwungenen Rhythmus der Gnade kennen. Ich werde dir nichts auferlegen, was du nicht tragen kannst. Bleib bei mir, und du wirst lernen, frei und leicht zu leben‘ (Matthäus 11,28-30). Kommen Sie mit auf eine geistliche Reise …“
Hannah lachte tonlos. Diese etwas umformulierten Worte aus der Bibel sprachen sie an, hauchten den ihr so vertrauten Versen neues Leben ein. Müde? Erschöpft? Unsicher? Steve hatte die Antwort für sie bereits gegeben: Ja, ja, ja. Und Jesus lud die erschöpften Menschen ein: Kommt. Macht euch auf den Weg. Kommt mit mir. Arbeitet mit mir. Seht zu. Lernt. Bleibt bei mir. Lebt frei und leicht.
Kommen Sie mit auf eine geistliche Reise.
Mit ihrer Teetasse in der Hand ließ sich Hannah auf der Couch nieder. Doch während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, wurde ihr klar, dass es nicht nur der Stress des Packens oder die dreistündige Fahrt von Chicago hierher war, die sie erschöpft hatte. Sie war müde. Zutiefst müde. Müde von 15 Jahren pausenlosen Dienstes.
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