Charissa hatte die Absicht gehabt, sich nach dem Seminar am Montag davonzustehlen, bevor Dr. Allen ihr irgendwelche Fragen stellen konnte. Doch als sie ihre Sachen zusammenpackte, fing er sie ab. „Charissa, bleiben Sie doch bitte noch kurz“, sagte er, den Studenten unterbrechend, der eine Frage an ihn hatte.
Sie atmete tief durch und wartete darauf, dass er sein Gespräch beendete.
„Begleiten Sie mich doch ein Stück“, sagte er, während er seine Aktentasche nahm. „Ich würde gern etwas über die geistliche Reisegruppe hören.“
Sie verbarg ihre Irritation hinter einem aufgesetzten Lächeln. „Na ja, es war nicht ganz das, was ich erwartet hatte …“
„Nur weiter.“ Er würde sie nicht vom Haken lassen.
„Ich bin davon ausgegangen, dass es ein richtiger Kurs über geistliche Übungen und Gebetspraktiken wäre. Das stand zumindest auf dem Flyer. Ich hatte einen Vortrag mit anschließender Diskussion erwartet, doch stattdessen war das Ganze ziemlich … experimentell. Kein Studienplan, keine Leseliste. Keine Anhaltspunkte, was eigentlich das Ziel dieses Kurses ist. Ganz und gar nicht das, was ich erwartet habe.“
„Ich verstehe.“
Sie hatte das beklemmende Gefühl, dass das tatsächlich so war. Dr. Allen besaß geradezu übermenschliche Fähigkeiten in der Analyse, und plötzlich schien sie das Objekt seiner Studien zu sein. Charissa war daran gewöhnt, dass die Leute nur das sahen, was sie ihnen zu sehen gestattete, und jetzt erkannte ihr Professor offensichtlich Dinge, die sogar ihr selbst verborgen waren. Das gefiel ihr nicht.
„Vergessen Sie nicht, Charissa: Die Dinge, die uns ärgern oder enttäuschen, offenbaren oft mehr über uns als alles andere. Lernen Sie, bei dem zu verweilen, was Sie provoziert oder abstößt. Sie könnten feststellen, dass der Geist Gottes genau dort am Werk ist.“
Sie waren bei seinem Büro angekommen, und er wandte sich ihr zu. „Zum Lernen gehört mehr als ein Studienplan und eine klare Zielsetzung“, fuhr er fort. „Eigentlich ist es so, dass ein Plan dem wirklichen Lernen manchmal sogar im Weg steht, vor allem, wenn es das höchste Ziel eines Studenten ist, den Lehrstoff zu beherrschen.“ Er zögerte, musterte sie sorgfältig. „Sie sind eine ausgezeichnete Studentin, Charissa. Sie sind gewissenhaft, effizient und erledigen alles perfekt, was Sie anfangen. Aber unter dem Offensichtlichen gibt es mehr zu entdecken.“ Obwohl sein Kompliment eher wie ein Vorwurf klang, war Charissa entschlossen, keine Reaktion zu zeigen. „Kommen Sie doch kurz rein.“
Sie folgte ihm in sein Büro. Er legte seine Aktentasche ab, nahm ein Foto von seinem Schreibtisch und hielt es ihr hin. „Sie wissen ja, dass ich leidenschaftlich gern segele“, sagte er.
Charissa betrachtete das Foto von Dr. Allen und einigen Freunden auf einem Segelboot. Jemand hatte gerade in dem Augenblick auf den Auslöser gedrückt, als das Segel gebläht war. Seine grauen Haare wehten im Wind, sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung.
„Sind Sie schon mal gesegelt?“, fragte er.
„Ja, einmal mit meinem Vater, als ich klein war. Ich erinnere mich nur daran, dass das Boot sanft auf dem Wasser geschaukelt hat. Wir warteten darauf, dass Wind aufkam. Mein Papa war ziemlich frustriert, und ich glaube, danach ist er nicht mehr segeln gegangen. Er hat ein Motorboot gekauft.“
Dr. Allen lachte. „Genau. Segeln ist nicht effizient. Darum nutze ich es als Bild für mein eigenes geistliches Wachstum und meine Übungen.“ Er hielt inne. „Mir fällt es schwer, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Ich bevorzuge es, einen Kurs festzulegen und diesem ohne Umwege und Ablenkungen zu folgen – mit einem Motorboot durchs Leben zu fahren, wenn Sie so wollen. Doch das Segeln ist eine gute Übung für mich. Ich lerne, Geduld zu haben, auf den Wind zu warten und zu überlegen, welche Segel gehisst werden müssen, um die Kraft des Windes am besten zu nutzen. Zwar habe ich absolut keine Kontrolle über den Wind, doch ich kann darauf reagieren, wenn ich aufmerksam bin.“
Er stellte das Foto wieder auf seinen Schreibtisch. „Am liebsten würden wir die Richtung unserer geistlichen Reise festlegen“, fuhr er langsam fort. „Doch in der Liebe zu Gott und zu anderen Menschen zu wachsen ist ein lebenslanger Prozess, den wir nicht aus eigener Kraft erreichen können. Wir müssen lernen, dem Heiligen Geist das Steuer zu überlassen.“ Er lächelte geheimnisvoll. „Vielleicht möchte Gott Ihnen durch ihre Frustration über diesen Kurs etwas klarmachen.“
Seine dunklen Augen blickten sie eindringlich an, und sie wünschte sich beinahe, er würde ihr auch gleich verraten, was Gott ihr klarmachen wollte. Doch Dr. Allen hütete sich, ihr etwas zu sagen, was sie allein herausfinden musste. Zurückhaltung war die Gabe eines guten Lehrers, und in diesem Augenblick ärgerte sie sich darüber, dass er ein guter Lehrer war.
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