„Hast du gehört, dass es Ponyreiten im Garten geben wird?“
„Kristie hat mir erzählt, dass wir die ganze Nacht aufbleiben und uns Geistergeschichten erzählen können!“
Kristie hatte versprochen, Mara zu ihrer Geburtstagsparty einzuladen, wenn Mara ihr helfen würde, eine Inhaltsangabe zu einem Buch zu schreiben. Mit großen Augen hatte Mara zugehört, als Kristie in allen Einzelheiten schilderte, welche Aktivitäten für die Feier geplant waren. „Du darfst am Geburtstagstisch auch neben mir sitzen“, hatte Kristie versprochen und sie freundlich angelächelt.
Mara hatte bisher noch nie bei einem anderen Mädchen übernachtet, und ihre Mutter hatte ihr extra für diese Gelegenheit ein neues Nachthemd gekauft. Doch als die Inhaltsangabe abgegeben war und die Geburtstagseinladungen verteilt wurden, musste Mara feststellen, dass es für sie keinen rosa Umschlag gab.
Kristie zuckte die Achseln und sagte: „Meine Mutter hat gesagt, dass ich zu viele Mädchen eingeladen habe. Tut mir leid. Vielleicht kannst du ja nächstes Jahr kommen.“
Auf dem Heimweg vom Einkehrzentrum wirbelten in Maras Kopf lauter entstehende Bilder und beginnende Einsichten durcheinander.
Im Labyrinth hatte sie über das nachgedacht, was sie gesehen hatte, als Katherine die biblische Geschichte vorgelesen hatte. Es war so real gewesen: Die Stimme von Jesus, seine Augen, sein Lachen. Vor allem sein Lachen. Sie hörte sein glückliches, freudiges Lachen immer noch, so als wäre ein großer Sieg errungen worden: „Mara, komm mit mir. Ich wähle dich. Kommst du mit?“
Eine Flut von schmerzlichen Erinnerungen war auf dem Weg zum Mittelpunkt des Labyrinths über sie hergefallen: das schreckliche Gefühl, nicht gewählt zu werden, der Schmerz der Zurückweisung. Mara war wieder in der Vergangenheit, erlebte manche Begebenheiten in allen Facetten noch einmal. Sie sah, wie die achtjährige Mara ganz allein auf dem Spielplatz spielte, allein im Bus saß, allein in ihrem Zimmer weinte. Sie sah die sechzehnjährige Mara, die allein zum Unterricht ging, in der Cafeteria allein am Tisch saß; allein im Bett lag, nachdem der Nachbarsjunge bekommen hatte, was er wollte. Und sie war verwirrt, ängstlich, beschämt und leerer und einsamer zurückgeblieben als je zuvor in ihrem Leben.
Nun, nicht ganz so leer und allein.
Als die Wochen ins Land gingen, war die Übelkeit ein Zeugnis für das, was der Junge ihr genommen und was er ihr hinterlassen hatte. Ihre Mutter fuhr mit ihr in die Klinik, bevor „es“ für alle offensichtlich wurde, und Mara verpasste nur zwei Schultage. Sie sprachen nie wieder darüber. Doch die Stille schrie laut.
Zweieinhalb Jahre später war es ein anderes Bett, ein anderer Mann – dieses Mal verheiratet –, der ihr versicherte, sie sei alles, was er sich je gewünscht hätte, und ihr versprach, sie zu seiner Frau zu machen, wenn sie nur etwas Geduld hatte. Und so brachte sie ihr gemeinsames Kind zur Welt. Er besuchte sie manchmal an den Wochenenden, und Jeremy nannte ihn „Papa“.
Mara wartete und wartete. Aber er entschied sich nicht für sie. Als seine Frau irgendwann von seiner Geliebten und dem dreijährigen Jungen erfuhr, drohte sie ihr Gewalt an. Und er auch. Er schrie sie an, schwenkte die Fäuste, befahl der „nichtsnutzigen Schlampe“, sie solle verschwinden und das Kind mitnehmen. Eine Busfahrt durch die Nacht brachte sie von Ohio in eine Stadt in Michigan, wo niemand sie kannte. Weiter als bis nach Kingsbury war Mara mit dem Geld, das er ihr vor die Füße geworfen hatte, nicht gekommen.
Nie hatte sie den Augenblick vergessen, als sie aus dem Bus eine Welt betrat, die nach Zigarettenrauch und Schweiß stank. Sie war desorientiert und verwirrt, gedanklich immer noch mit der zornigen Auseinandersetzung vom Vortag beschäftigt. Jeremy war müde und hungrig. „Ich will meinen Hasi“, sagte er daumenlutschend.
„Dein Hasi ist nicht da. Ich kaufe dir einen neuen.“ Wieso nur hatte sie vergessen, Jeremys Plüschhasen mitzunehmen? In panischer Hast hatte sie die Wohnung verlassen und nur ein paar Kleidungsstücke eingepackt.
Er starrte sie mit den haselnussbraunen Augen seines Vaters an. „Ich will aber meinen Hasi!“
„Ich hab dir doch gesagt, Jeremy, ich kauf dir einen neuen Hasi.“ Sie zog an seiner Hand, und er trat nach ihr – ihr wunderbarer kleiner Junge mit den dunklen Locken war das gespuckte – und spuckende – Ebenbild des Mannes, der sie beide so schmählich im Stich gelassen hatte. Maras Augen füllten sich mit Tränen.
Jeremy begann zu jammern. „Ich will keinen neuen Hasi. Ich will den Hasi von Papa.“
„Aber du kannst Papas Hasi nicht haben, okay?“ Sie schaute sich im Busbahnhof um und überlegte, was sie nun machen sollte. Wo sollten sie hingehen? Er schrie noch lauter. „Ich will zu Papa! Ich will zu Papa!“
Sie schlug ihn. Sie verpasste ihm tatsächlich eine Ohrfeige. „Sei still! Papa ist nicht da! Dein Hasi ist auch nicht da! Du wirst Papa und Hasi nie wieder sehen!“
Noch immer war es Mara nicht gelungen, den Anblick seines kleinen, verängstigten Gesichts aus ihrer Erinnerung auszulöschen. Bis zum heutigen Tag verfolgte die Erinnerung sie, und ihre Bemühungen, sie auszulöschen, machten sie umso lebendiger. Jeremy hatte aufgehört zu weinen und fest ihre Hand umklammert. 27 Jahre später spürte Mara immer noch den Griff seiner kleinen Finger um ihre.
Während sie mit Jeremy an der Hand ziellos im Busbahnhof herumlief, sah jemand, dass sie weinte – ein Engel mit Namen Jo. „Alles in Ordnung, Liebes?“, fragte die Frau. „Sie wirken so verloren.“
Jo war groß, rund, weich und mitfühlend, und für den Augenblick waren Maras Ängste verschwunden.
„Ich hab meinen Hasi und meinen Papa verloren“, sagte Jeremy und blickte mit zitternder Unterlippe in das Gesicht dieser freundlichen Fremden. „Und ich hab Hunger.“
Mara hatte Jos Nachnamen nie erfahren, aber noch Jahre später dankte sie Gott für ihre Hilfe. Jo kaufte ihnen Frühstück und brachte sie zum Crossroads-Haus, wo andere Schutzengel ihnen eine sichere Unterkunft, Essen und einen neuen Hasi für Jeremy boten. Und neue Hoffnung. Ihre Großzügigkeit wies Mara auf Jesus hin, und irgendwann öffnete sie sich für den Glauben. Ihr war bewusst gewesen, wie dringend sie einen Neuanfang brauchte, und es war ihr egal, wenn Gott sie nur aus Mitleid annahm, aus Erbarmen. Wenigstens schickte Gott sie nicht weg.
Doch jetzt ließen die Worte von Jesus in ihrer Vision sie nicht los: Ich habe dich gewählt, Mara. Kommst du mit mir?
Mara war noch nie für irgendetwas gewählt worden. Nie. Und sie war nicht sicher, ob Jesus sie tatsächlich gewählt hatte.
Sie war überhaupt nicht sicher.
Als Mara nach Hause kam und ihren Anrufbeantworter abhörte, freute sie sich über eine Nachricht von Jeremy: „Hey, Mama! Abby ist heute zu Besuch bei ihren Eltern. Wie wäre es, wenn ich zu dir rüberkomme? Ich könnte chinesisches Essen oder Pizza mitbringen. Wie du magst. Ruf mich an, okay?“
Mara entschied sich für Cashew-Hühnchen und begrüßte Jeremy wenig später an der Tür. „Wo sind Tom und die Jungs denn?“, fragte Jeremy und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Sie sind zelten und kommen morgen Abend zurück.“ Sie setzten sich mit dem Essen an den Tisch. „Wie schön, dass du hier bist, Jerry“, sagte Mara, während sie Teller und Gläser aus dem Schrank nahm.
„Weißt du, neulich abends klangst du so niedergeschlagen. Ich dachte, du könntest ein bisschen Gesellschaft gebrauchen.“
Mara war nicht sicher, wie viel sie preisgeben sollte. Dawn hatte ihr geholfen, ihre tiefe emotionale Bindung zu ihrem ältesten Sohn zu erkennen. Es stimmte – sie fühlte sich Jeremy näher als ihrem Mann. Jeremy gehörte ihr Herz, wie es Tom nie gehört hatte, und sie musste Wege finden, um loszulassen. Aber vielleicht nicht heute. Sie seufzte. „Ich habe das Gefühl, festzustecken.“
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