Wie oft hatte Jesus diese Worte in Hannahs Leben gesprochen? „Hannah, Hannah, du bist um so vieles besorgt und machst dir so viel Mühe.“
Sie seufzte erneut. Beide Schwestern lebten in ihr, und seit Jahren stritten sie miteinander. Wenn Hannah still saß und wie Maria aufmerksam auf Jesus hörte, beklagte sich ihre innere Martha, sie würde Zeit vergeuden und es gäbe doch so viel Wichtiges für das Reich Gottes zu tun. Und wenn Hannah von einem Termin zum anderen hastete und mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigte, dann warf ihre innere Maria einen nachdenklichen Blick in ihre Richtung, und sofort machten sich die Schuldgefühle bemerkbar.
„Nur eins ist nötig“, sagte Jesus zu Martha. Maria hatte den besseren Teil gewählt, indem sie bei Jesus war, und für Hannah galt dieselbe Einladung. Nachdem ihr nun jede Gelegenheit zum Dienst für andere genommen worden war, hatte Hannah alle Zeit der Welt, zu Jesu Füßen zu sitzen und aufmerksam auf ihn zu hören – und niemand forderte ihre Hilfe ein. Niemand.
Aber warum widersetzte sie sich genau der Sache, die sie doch angeblich so sehr wollte? Warum widerstand sie der Einladung, zu Jesu Füßen zu sitzen?
Als Hannah die Mitte des Labyrinths erreichte, war sie allein. Sie hatte die Absicht gehabt, hier zu verweilen und auf Gottes leise Stimme zu hören. Doch als sie sich niederließ, wurde sie innerlich immer rastloser. Ständig dachte sie an die anderen Teilnehmer, die sich wieder im Seminarraum zusammengefunden hatten.
Was hat Katherine noch gesagt, wann sie weitermachen würden? Habe ich vielleicht was verpasst?
Sie atmete tief durch, versuchte sich zum Gebet zu sammeln. Sollte ich nicht drinnen sein, für den Fall, dass jemand etwas braucht?
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr: 11:15 Uhr. Um wie viel Uhr sind die anderen hineingegangen?
Seufzend erhob sie sich. Sie könnte ja noch einmal zurückkommen, wenn sie nicht so abgelenkt war. Ohne den Weg durch das Labyrinth zurückzunehmen, verließ Hannah den Hof und eilte ins Haus.
Als Charissa das Labyrinth verließ, war sie ärgerlich und fühlte sich provoziert.
Es hatte keinen Augenblick der Inspiration gegeben, kein Gefühl der Gegenwart Gottes, keine der Erkenntnis. Nichts. Stille.
Nun ja, zumindest Gott hatte geschwiegen.
Ihre eigenen Gedanken waren laut genug gewesen, vor allem hatten sie hinterfragt, ob sie alles richtig machte, während sie ziellos dem gewundenen Pfad folgte. Charissa mochte Spiralen nicht. Sie liebte gerade Linien und klar definierte Ziele. Im Kreis zu laufen war sinnlos, und die Windungen und Biegungen des Labyrinths waren total frustrierend. Wenn sie dachte, jetzt würde sie sich der Mitte nähern, führte der Weg sie wieder an den Außenrand. Irritierend.
Unterwegs war sie nicht in der Lage gewesen, über Dinge nachzudenken, die sie loslassen müsste. Es fielen ihr keine Sünden ein, die sie bekennen müsste. Nach außen versuchte sie andächtig zu wirken, für den Fall, dass jemand sie beobachtete, aber sie wollte im Grunde nichts weiter, als zum Ende zu kommen und es hinter sich zu haben.
Außerdem, bei dem ganzen Gerede über die „geistliche Reise“ und davon, seine „innere Welt kennenzulernen“ fragte sie sich immer noch, ob sie nicht in einer seltsamen Esoterik-Veranstaltung gelandet war. Dr. Allen hatte ihr versichert, dass das New Hope-Einkehrzentrum theologisch in Ordnung und Katherine Rhodes vertrauenswürdig sei. Aber wusste Dr. Allen auch über das Labyrinth Bescheid? Vielleicht war er doch nicht so geradlinig, wie Charissa gedacht hatte. Vielleicht war es ihm gelungen, unter dem christlichen Radar der Kingsbury-Universität durchzutauchen.
Nachdem sie nun wieder im Gruppenraum saß und zuhörte, wie die anderen von ihren Erkenntnissen und Entdeckungen auf dem Gebetsspaziergang erzählten, fühlte sie sich noch abgestoßener. Eine Frau erzählte, für sie sei es ein Geschenk gewesen, zusammen mit so vielen anderen Menschen durch das Labyrinth zu gehen. Ihr sei klar geworden, dass, egal mit welchen Problemen sie auch zu kämpfen hätte, immer auch andere Pilger auf dem Weg zum Herzen Gottes unterwegs seien. Diese Gemeinschaft der Gläubigen hätte ihr Mut gemacht und Hoffnung gegeben.
Ein anderer Teilnehmer erzählte, wie sehr ihn die Erfahrung frustriert hatte, dass der Weg ihn jedes Mal, wenn er dachte, er würde endlich in der Mitte ankommen, wieder zum äußersten Rand geführt hatte. Er sei sich dadurch seiner starken Sehnsucht bewusst geworden, das Ziel zu erreichen, und fragte sich, ob Gott ihn vielleicht dazu einlud, auch die Reise mit allen ihren Kehren und Windungen zu genießen.
Voller Begeisterung berichteten die Gruppenteilnehmer von ihren geistlichen Erkenntnissen. Charissa war froh, dass sich von ihrem Tisch niemand zu Wort meldete. Wenigstens fiel ihr Schweigen dadurch nicht so auf. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Na los. Kommt schon. Ihrer Meinung nach ließ Katherine Rhodes viel zu viel Raum für diese unwichtigen Beiträge. Was für eine Zeitvergeudung.
Kurz vor dem Mittag fasste Katherine die Ausführungen zusammen: „Eines habe ich im Laufe der Zeit festgestellt: In unserer äußeren Welt zurechtzukommen ist sehr einfach im Vergleich zu der Reise durch den Irrgarten unserer inneren Welt. Ich freue mich über Ihre Berichte, wie das Labyrinth zu einer Metapher und einem Spiegel für das Wirken Gottes in Ihrem Leben geworden ist. Sie können gern jederzeit wieder herkommen und durch das Labyrinth gehen und beten. Wie ich anfangs bereits sagte, werden Sie auf Ihrer Reise sicher Ablenkungen und Phasen der Verwirrung erleben. Es mag Zeiten geben, in denen Sie den Mut verlieren und in Versuchung geraten aufzugeben. Aber wenn Sie durchhalten, wenn Sie in der Hoffnung und in dem Vertrauen darauf weitergehen, dass Gott selbst Ihre Reise leitet und bei Ihnen ist, dann kann sie zu einem wundervollen Abenteuer werden. Es ist ein besonderes Geschenk, mit vertrauenswürdigen Gefährten unterwegs zu sein. Wir brauchen einander. Gott möchte nicht, dass wir allein nach dem Weg suchen. Darum bete ich, dass Sie sich auch gegenseitig näherkommen, während Sie Gott besser kennenlernen.“
Ein wundervolles Abenteuer? Eher unwahrscheinlich, dachte Charissa. Nicht, wenn sie nur herumsitzen und über eher lächerliche persönliche Erkenntnisse aus New Age-Praktiken reden würden. Sie konnte nicht fassen, dass es keinen Studienplan gab. Woher sollte sie denn so wissen, ob es sich lohnte weiterzumachen?
„Die frühen Wüstenväter und -mütter zogen sich in die Einöde zurück, um Gott zu suchen und sich selbst kennenzulernen“, erklärte Katherine jetzt. „Wir brauchen uns nicht an einen abgelegenen Ort zurückzuziehen oder unseren Alltag aufzugeben, um Gott zu begegnen. Aber wir müssen uns darin üben, das Wirken des Geistes Gottes im Alltag zu erkennen. Wir müssen uns Zeit nehmen, um still zu sein und zuzuhören. Das Gepäck zu identifizieren, das wir mit uns herumschleppen und das uns niederdrückt, braucht ebenfalls Zeit. Bei dieser Reise wird es unter anderem auch darum gehen. – Noch ein letzter praktischer Hinweis, bevor ich zum Schluss noch ein Gebet spreche: In den kommenden zwei Wochen beschäftigen Sie sich bitte mit Ihren Bildern von Gott. Überlegen Sie vor allem, wie Ihre gegenwärtigen Vorstellungen entstanden sind und ob und wie sie sich im Laufe der Jahre verändert haben. Wer ist Gott für Sie? Und vergessen Sie nicht, ein Reisetagebuch zu führen. Ich bin sicher, dass der Heilige Geist Ihnen viele Dinge eröffnen wird, wenn Sie sich die Zeit nehmen herunterzuschalten, still zu sein und zuzuhören.“ Sie hielt inne. „Meine lieben Mitpilger, der Herr sei mit Ihnen. Mögen Sie Wege finden, mit Gott und miteinander zu sein.“
Charissa klappte ihren Laptop zu und steckte ihn in seine Hülle zurück.
Meg blieb noch zurück, als die anderen sich verabschiedet hatten. Katherine räumte den Tisch ab und stellte schmutzige Teller und Kaffeebecher auf einen Servierwagen.
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