„Kann ich Ihnen dabei helfen?“, fragte Meg.
Katherine drehte sich um. „Das wäre sehr nett“, erwiderte sie mit einem Blick auf ihr Namensschild. „Vielen Dank, Meg.“
Während Katherine ihre Papiere zusammensuchte, räumte Meg den Tisch ab. Selbst das trieb ihr schon wieder Tränen in die Augen. Es war seltsam mit der Trauer. Sie war so vollkommen unberechenbar und schlug bei den einfachsten Auslösern unerwartet zu. Wie lange war es her, dass sie einen Tisch abgeräumt hatte? Obwohl Becca erst sechs Wochen fort war, fühlte es sich an, als wäre es schon unendlich lange her. Und Mutter …
„Also, Meg, wie fanden Sie den Vormittag?“
Meg wischte sich schnell über die Augen. „Ich fürchte, ich war nicht sehr gut vorbereitet“, erwiderte sie leise.
„Wie das?“ Katherine ließ sich auf einem Stuhl nieder und forderte Meg mit einer einladenden Geste auf, sich neben sie zu setzen.
„Ich, äh, … ich wusste nicht, was mich erwartete, und habe nicht die passende Kleidung gewählt.“ Meg deutete auf ihre hohen Absätze.
Katherine lachte. „Ja, das sind nicht gerade Wanderschuhe, nicht? Und wenn ich Sie mir so ansehe, sind Sie vermutlich nicht der Typ, der die Schuhe einfach auszieht und barfuß läuft.“
Meg schüttelte lächelnd den Kopf.
„Dann können Sie sich ja beim nächsten Mal noch auf das Labyrinth freuen. Kommen Sie früh genug, dann ist auch noch niemand da, der Sie beobachtet.“
Meg seufzte. „Alle hatten so tiefsinnige Dinge zu sagen. Aber ich fürchte, ich bin nicht so. Vielleicht ist das Niveau in dieser Gruppe für mich zu hoch.“ Schon wieder brannten Tränen in ihren Augen, und sie wandte den Blick ab.
„Jesus hat gesagt. ‚Glücklich sind, die erkennen, wie arm sie vor Gott sind, denn ihnen gehört die neue Welt Gottes 2‘“, sagte Katherine mit sanfter Stimme.
Der Vers kam ihr bekannt vor, aber Meg wusste nicht, was er bedeutete.
„Sie beginnen die Reise mit einem wundervollen Geschenk, Meg, wenn Sie schon wissen, dass Sie nicht so viel wissen, und wenn Sie bereits erkannt haben, wie verzweifelt Sie Gott brauchen. Demut ist immer der Ausgangspunkt für diejenigen, die Gott näherkommen wollen.“
Meg blickte auf und begegnete Katherines mitfühlendem Blick. „Natürlich gibt es auch die Art der inneren Armut, die lähmt“, fuhr Katherine langsam fort, „die höhnt, dass man nicht gut genug ist, egal wie sehr man sich bemüht. Diese Art der Selbstdemütigung hindert uns daran, uns so zu sehen, wie Gott uns sieht.“ Sie hielt inne. „Vielleicht wird Ihre Reise Sie vom einen zum anderen führen.“
Meg schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich verstehe nicht so ganz, was Sie meinen.“ Es gab so vieles, was sie nicht verstand. Wie konnte es sein, dass sie sich mit 46 immer noch wie ein Kind fühlte? Das Alter hatte sich angeschlichen, als sie gerade nicht aufgepasst hatte.
Katherine lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Vor vielen Jahren, als ich noch Berufsanfängerin war“, erzählte sie, „hatte ich einen Traum, den ich nie vergessen habe. In dem Traum bewarb ich mich für einen Job bei der Polizei – ausgerechnet! Der Polizeibeamte war sehr unfreundlich und grunzte, wenn ich den Job haben wollte, müsste ich dreihundert Pfund heben können.“
Meg lachte laut auf.
„Ich weiß. Sehen Sie mich nur an!“ Katherine lachte und deutete auf ihre mageren Arme. „Also erklärte ich ihm, dass ich schon lange keinen Sport mehr gemacht hätte. Und er runzelte die Stirn und brummte: ‚Nun, das ist aber die Voraussetzung für den Job, meine Dame. Ist das ein Problem für Sie?‘ Ich blickte ihm in die Augen und erwiderte: ‚Nein, das ist kein Problem für mich, weil Jesus es für mich tun wird.‘ Daraufhin brachte er mich zu einem riesigen Apparat mit Gewichten – das Ding war wirklich monströs! – und schnallte mich an. Anfangs konnte ich mich kaum rühren, doch dann plötzlich drückte ich riesige Gewichte hoch über meinen Kopf, immer und immer wieder.“
Meg grinste, als Katherine die Bewegung demonstrierte. Mit funkelnden Augen fuhr Katherine fort. „Leider wachte ich auf, bevor ich erfuhr, ob ich den Job bekommen hatte. Aber ich wusste, dass der Traum eine wichtige Bedeutung hatte, darum bat ich den Heiligen Geist, mir zu helfen, ihn zu verstehen. Und während ich betete, hatte ich ganz stark das Gefühl, dass Gott zu mir sagte: ‚Kitty, das ist Demut. So sollst du leben: in dem Wissen, dass du aus dir heraus nicht die Kraft hast, aber in vollem Vertrauen darauf, dass du durch mich alles schaffen kannst.‘“ Sie hielt inne. „Ergibt das einen Sinn?“
Meg sprach langsam. „Ich denke schon. Mein Pastor sagt oft, dass wir nur noch nach oben schauen können, wenn wir mit unseren eigenen Mitteln am Ende sind.“
„Genau.“ Katherine faltete die Hände. „Als Jesus von den ‚Armen im Geiste‘ sprach, meinte er vermutlich die Menschen, die absolut hilflos und in allen ihren Bedürfnissen vollkommen von Gott abhängig sind. Diese Art von Schwäche ist ein Segen, Meg. Es ist ein Geschenk, sagen zu können: ‚Ich kann das nicht, aber Gott kann es!‘“ Katherine blickte Meg eindringlich an. „Eigentlich ist dies eines meiner Lieblingsgebete. Beim Einatmen sage ich die Worte: ‚Ich kann es nicht‘ und beim Ausatmen: ‚Aber du kannst, Herr‘. Und das immer und immer wieder, den ganzen Tag. Diese einfachen Worte helfen mir, voller Hoffnung und Glauben weiterzugehen, wenn der Weg schwierig wird. Und manchmal ist er sehr schwierig, nicht?“
Meg schwieg und lauschte auf den Rhythmus ihres eigenen Atems. Konnte man wirklich so beten? So … beständig? So einfach … Ihre Ängste waren für sie wie das Atmen – ständig und regelmäßig und ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sie kaum noch bemerkte. Könnte Gebet so für sie werden? Könnte das Bewusstsein der Gegenwart und Macht Gottes für sie tatsächlich wie die Luft zum Atmen für sie werden?
„In den vergangenen Jahren habe ich eigentlich immer nur gesagt: ‚Ich kann nicht‘.“ Megs Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch anders kann.“
Katherine lächelte sie ermutigend an. „Bei geistlichen Übungen geht es darum, neue Gewohnheiten zu formen“, erwiderte sie. „Wenn Sie den Teil mit dem ‚Ich kann nicht‘ schon so gut beherrschen, können Sie jetzt ja anfangen, den zweiten Teil einzuüben: ‚Aber du kannst.‘ Gottes Gnade ist so groß, dass unsere Schwächen wunderbare Gelegenheiten für den Heiligen Geist werden, in uns zu wirken. Unsere Ängste, unsere Versuchungen, sogar unsere Sünden können uns näher zu Gott bringen.“
Meg dachte einen Augenblick nach. „Meine Ängste hätten mich heute beinahe davon abgehalten, hierher zu kommen“, murmelte sie schließlich.
Katherine blickte sie wissend an. „Und doch hat Gott Ihnen den Mut geschenkt zu kommen – und nicht wieder wegzulaufen.“ Meg spürte, wie sie errötete. „Ich zweifle nicht daran, dass Gott Ihnen alles geben wird, was Sie brauchen, um dem Weg in die Freiheit zu folgen, Meg. Er wird an Ihrer Seite gehen.“
Meg schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Danke“, hauchte sie.
Katherine drückte ihre Hand und erhob sich. „Gott segne Sie, Meg. Wir sehen uns beim nächsten Mal.“
Meg verließ das Gebäude durch die Tür zum Innenhof und ging über den von Bäumen gesäumten Weg zum Labyrinth. Als sie es erreichte, war sie überrascht, Hannah auf der Bank bei den Rosensträuchern sitzen zu sehen. Ihr erster Impuls war, sich unbemerkt zurückzuziehen, doch es war bereits zu spät; Hannah blickte auf und winkte. Das Klappern ihrer Absätze hatte sie verraten.
„Entschuldigung“, sagte Meg und deutete auf Hannahs Notizbuch. „Ich wollte Sie nicht stören.“
„Ich bin sowieso fast fertig“, erwiderte Hannah. Sie rutschte ein Stück zur Seite, damit Meg Platz hatte. Meg wischte einige rosa Blütenblätter von der Sitzfläche. „Ich habe mir nur schnell ein paar Dinge aufgeschrieben, bevor ich sie wieder vergesse. Wollten Sie durch das Labyrinth gehen?“
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