Hannah hatte noch nie gehört, dass einer Pastorin eine so lange Sabbatzeit gewährt worden war. Das machte sie misstrauisch. Da man ihr immer sehr schnell ansah, was sie dachte, wandte sie sich ab und studierte eingehend die Topfpflanze und den Luftballon mit der Aufschrift „Gute Besserung!“, die sie Ted später am Tag ins Krankenhaus bringen wollte.
Steve ahnte ihre Reaktion voraus und reagierte auf ihre unausgesprochenen Ängste: „Wir wollen dich nicht loswerden, Hannah. Keine Sorge. Du machst deine Arbeit großartig, die Gemeinde liebt dich und du bist eine prima Kollegin.“
Noch immer hielt sie den Blick abgewandt. Sie traute sich selbst nicht. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er sich vorbeugte, seine Ellbogen auf die Knie stützte und die Hände faltete. Dies war Steves Haltung, wenn er es ernst meinte, und eigentlich war sie reserviert für besonders schwierige Situationen: Ehepaare, die kurz vor einer Scheidung standen; Teenager, die mit Selbstmordgedanken kämpften; Eltern, die nach dem Tod eines Kindes ihren Glauben zu verlieren drohten. Steve drückte dann bildlich gesprochen die Hacken fest in den Boden und zog mit aller Kraft an dem unsichtbaren Seil die Betroffenen vom Abgrund der Verzweiflung zurück in die starken Arme Jesu.
Ganz eindeutig schien Steve der Ansicht zu sein, dass Hannah an einem Abgrund stand. Aber wie kam er darauf? Sie brauchte das Seil nicht. Gar nicht, überhaupt nicht.
„Erinnerst du dich noch an diese wundervolle Predigt über Johannes fünfzehn, die du vor ein paar Monaten gehalten hast?“, sagte er.
Hannah antwortete nicht. Sie hatte das ungute Gefühl, dass ihre Auslegung des Bildes von Jesus als dem Weinstock und Gott als Gärtner gleich von hinten über sie herfallen und sie beißen würde.
„Du hast der Gemeinde zu erklären versucht, dass es keine Strafe ist, wenn ein Weinstock beschnitten wird, sondern dass es seiner Verbesserung dient. Du hast uns daran erinnert, dass Gott uns formt, wenn er uns beschneidet, sodass wir Christus ähnlicher werden. Jesus hat gesagt, dass die Zweige, die beschnitten werden, diejenigen sind, die die beste Frucht bringen. Und du bringst Frucht, Hannah. Viel Frucht. Diese Sabbatzeit ist keine Strafe – sieh sie doch als eine Möglichkeit, dich neu zu formieren. Es ist an der Zeit, dass Gott einmal für dich sorgt, um dich zu erhalten.“
„Aber schon im September?“, rief sie. „Das ist unmöglich! Ich habe die Herbstveranstaltungen doch bereits geplant. Auf keinen Fall kann ich einfach alles stehen und liegen lassen. Und wer soll denn überhaupt für mich einspringen?“
Steve zögerte, und sein Zögern verriet Hannah alles, was sie wissen musste. Das Ganze war schon seit längerer Zeit geplant. Aber sie hatten es ihr verschwiegen. Warum war sie denn nicht vorgewarnt worden? Warum hatten sie sie nicht in die Planung mit einbezogen? Mehr noch, warum war sie gar nicht erst um ihre Meinung gefragt worden?
„Es ist bereits alles geregelt, Hannah. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich verspreche es.“
Das war verrückt. Vollkommen absurd. Wie hatte das passieren können?
Steve sprach mit seiner leisen, beruhigenden Stimme weiter. „Du leistest großartige Arbeit hier. Alle Mitarbeiter und Ältesten sind sich in diesem Punkt einig. Aber wir denken auch, dass du etwas Zeit und Raum brauchst, um deine persönlichen und beruflichen Identitäten zu entwirren. Du weißt nicht mehr, wer du bist, wenn du nicht deinen Beruf ausübst. Du weißt nicht, was du mit dir anfangen sollst, wenn du einmal nicht gebraucht wirst. Und du merkst gar nicht, wie erschöpft du im Grunde genommen bist. Glaub mir. Ich spreche aus Erfahrung.“
Obwohl seine Stimme sanft war, zuckte sie zusammen.
„Vor Jahren hat mein Pastorenkollege dasselbe Gespräch mit mir geführt, Hannah. Er hat Warnzeichen in meinem Leben erkannt, die ich selbst nicht wahrnehmen konnte, und er hat die Initiative ergriffen. Sein Eingreifen hat mir meine Arbeitskraft gerettet, meine Familie und meine Gesundheit. Die Auszeit war ein großer Segen für mich, und ich hoffe, dass sie auch für dich ein Segen sein wird.“
Sie wollte das nicht hören. Sie war nicht ausgebrannt, und sie stand auch nicht am Abgrund. Sie hatte keine Familie, um die sie sich Gedanken machen musste, und mit ihrer Gesundheit war alles in Ordnung. Sie brauchte keine Pause. Gar nicht, überhaupt nicht.
„Kann ich denn nicht einfach nur einen Monat frei nehmen?“
„Nein.“
„Dann drei Monate? Ich werde irgendwo eine Einkehrzeit halten und erfrischt und erneuert zurückkehren.“
Steve ließ nicht mit sich reden. „Wir sprechen hier von einer radikalen Beschneidung. Zwei oder drei Monate reichen nicht aus, dann zählst du nur die Tage, bis du wieder zurückkommen und genau an der Stelle weitermachen kannst, wo du aufgehört hast.“
„Aber ein ganzes Schuljahr! Wie soll ich denn diese ganze freie Zeit füllen?“
Er lächelte sanft. „Mach dir darüber keine Gedanken. Du brauchst ja noch nicht sofort zu planen. Wir können später über ein paar Ideen sprechen, was du in dieser Zeit tun könntest. Aber das Wichtigste ist, dass du irgendwohin fährst, wo du einmal wirklich zur Ruhe kommst, und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dir dabei zu helfen.“ Er erhob sich. „Neun Monate, Hannah. Gib Gott neun Monate Zeit.“
Widerspruch hatte keinen Zweck, das wusste sie. Die Entscheidung war gefällt worden, ohne sie mit einzubeziehen – ohne ihr Wissen oder ihre Billigung –, und sie konnte nichts dagegen tun. Während sie Steve beim Verlassen ihres Büros hinterherschaute, begann sie sich zu ärgern. Seine Einmischung war unnötig. Sie wollte das nicht, dieses „Geschenk“, das so ungewöhnlich großzügig sein sollte. Doch sie fühlte nicht nur Verärgerung. Jetzt machten sich auch Schuldgefühle wegen ihrer Undankbarkeit bemerkbar.
Und dieses Gefühl behagte ihr schon gar nicht.
Mara, 1968
Mara Payne biss sich auf die Lippe. Sie hielt den Blick gesenkt und trat mit ihren Turnschuhen nach kleinen Dreckklumpen im Gras. Sie kannte das schon. Diese Rolle hatte sie bereits unzählige Male gespielt, und das Drehbuch beherrschte sie im Schlaf: Nacheinander würden die beiden Mannschaftsführerinnen die Namen ihrer Klassenkameraden aufrufen. Nacheinander würden die Erwählten zu der jeweiligen Seite gehen, sich gegenseitig gratulieren und der Mannschaftsführerin ins Ohr flüstern, wen sie als Nächste wählen sollte.
Mara brauchte nicht hochzublicken, um zu wissen, was gerade passierte. Die Füße neben ihren gehörten zu Eddie Carter. Sie kannte seine Turnschuhe: Blaue Streifen, schmuddelige Schnürriemen und ein kleines Loch am großen Zeh. Eddie wurde immer als Vorletzter ausgewählt, aber er wurde wenigstens gewählt. Mara blieb immer übrig. Wenn die Mannschaftsführerin schließlich mürrisch ihren Namen zwischen den Zähnen hervorstieß, würde sie tief beschämt zu der entsprechenden Mannschaft trotten und sich dabei einreden, dass es ihr nichts ausmachte. Aber die Tränen, die auf ihre Schuhe tropften, erzählten eine andere Geschichte.
An einem warmen Augustabend saßen Mara und Tom Garrison in Michigan auf der Tribüne des Sportplatzes, verspeisten Hotdogs und feuerten die Baseballmannschaft ihres Sohnes, die Kingsbury Knights, an. Der Freitagabend war einer der wenigen Abende, die die Familie gemeinsam verbrachte. In der Woche war Tom von Montag bis Donnerstag geschäftlich unterwegs, und Mara vollführte den Eiertanz eines alleinerziehenden Elternteils. Doch wenn Tom zu Hause war, beschäftigte er sich mit Begeisterung mit ihren beiden Söhnen im Teenageralter.
„Los, los, los!“ Mit einem Satz war Tom auf den Beinen, als der fünfzehnjährige Kevin erst die erste, dann die zweite und schließlich die dritte Base erreichte. „Sicher!“, schrie Tom zusammen mit dem Schiedsrichter. „Ja! Gut gemacht, Kev!“ Er setzte sich wieder, immer noch begeistert klatschend. „Ich sag dir was, Mara, dieser Junge hat Talent. Pass nur auf! Am Ende bekommt er noch irgendwo ein Stipendium. Baseball, Football, Basketball – was es auch sei, er kann es!“
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